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Dagmar Varady-Prinich
"Es kann sein, die Tinte ist aber neu" - Luthers Tintenklecks als Medienmythos
Ein Text von Joachim Penzel
Sachsen-Anhalt gilt als "Luther-Land" und das nicht erst seit der medienwirksam gestarteten Imagekampagne anläßlich der Luther-Feiern 1995. Einerseits wird das kirchengeschichtliche Erbe des Reformators mit Aufwand gepflegt. Andererseits ist der historisch gewachsene Luthermythos ein spezielles kulturelles Kapital, das im Land dazu beitragen kann, regionale Identität zu entwickeln genauso wie es auswertige Touristen anzuziehen vermag. Dieser über vier Jahrhunderte wirkende Mythos war Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit von Dagmar Varady-Prinich.
Die Legende berichtet, daß Luther während seiner Bibelübersetzung auf der Wartburg der Teufel erschienen sei. Der Reformator, den seine Gegner selbst für die Verkörperung des Antichrists hielten, attackierte den Satan mit dem Tintenfaß. Als Zeugnis dieser couragierten Tat blieb der Tintenklecks erhalten. Er ist das symbolisches Relikt der Reformation: denn zum einen beweist er, daß wer den Teufel bekämpft, nicht selbst der Teufel sein kann. Zum anderen erweist sich Tinte, die das Wort festhält, als wirksame Waffe gegen das Böse. Überzogen könnte man den Tintenfleck als Inbegriff der Wortzentriertheit des protestantischen Glaubens bezeichnen.
Bei ihren umfangreichen Literaturrecherchen entdeckte Dagmar Varady-Prinich, daß diese Inkunabel der Reformation schon bald einem kritisch prüfenden Blick ausgesetzt war. Zar Peter der Große bemerkte im Jahre 1712 bei seinem Besuch der Lutherstube in Wittenberg angesichts des Flecks mit Skepsis: "Es kann sein, die Tinte ist aber neu". Offensichtlich bedürfen auch Mythen einer regelmäßigen Auffrischung, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Und nicht nur das: man kann sie auch vervielfältigen. Denn - fand das legendäre Tintewerfen nicht in Eisenach statt? Wo hat Luther nun eigentlich geworfen? Hat er gar ständig mit Tinte um sich geworfen? Hat er überhaupt mit Tinte geworfen?
Die zweifelnden Worte Peter des Großen hat Dagmar Varady-Prinich in sechs Sprachen übersetzen und als Postkarten drucken lassen. Sie werden während der Ausstellung "Verlängerte Frohe Zukunft" gezielt als "Flugschrift" in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus verteilt. Diese Übersetzungen stellen sich bewußt in die Tradition des Reformators, denn eine seiner wichtigsten Leistungen war die Übersetzung der Bibel. Außerdem soll die tintenblaue Postkarte ein möglichst weit gestreutes Publikum erreichen. In ihrer Reichweite und als bebilderter Druck ist die Postkarte mit der Flugschrift des 16. Jahrhunderts vergleichbar. Mit der Wahl dieses mittlerweile geläufigen künstlerischen Mediums möchte Dagmar Varady-Prinich auch darauf verweisen, daß die Reformation und die sie begleitende Publikationsflut als erstes großes Medienereignis der Neuzeit verstanden werden kann.
Die Übersetzung des Postkartentextes in Russisch, Tschechisch, Italienisch, Spanisch, Französisch und Englisch betont bewußt Internationalität, die im Gegensatz zur zeitgenössischen Kunst heute in Sachsen-Anhalt noch ein wenig fehlt. Die Postkartenedition von Dagmar-Varady-Prinich ist einerseits als kritische Reflexion des hiesigen Luther-Mythos zu verstehen. Andererseits ist sie ein Engagement für Sachsen-Anhalt und sein kulturelles Erbe. Im Gegensatz zu einer auftrags- und interessengebundenen Indienstnahme der Kunst beruht diese Arbeit vor allem auf persönlicher Motivation. Durch ihre Veröffentlichung erlangt die individuelle Haltung einen politischen Charakter.
Joachim Penzel
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