Donnerstag nacht war alles wie immer. Zwei Motorräder schnurrten über die Magistrale, ein später Spieler schlich ins Billard-Cafè, ansonsten schlief Halle-Neustadt friedlich. Und doch tat sich Seltsames: Schlag Zwölf bog an der Feuerwache ein bizarres Fahrzeug um den Block.
Aus dem Heck des alten, hübsch gerundeten Lasters leuchtete ein gelber Lichtkreis, aus zwei Lautsprechern schallten mal harte Beats, mal romantisches Meeresrauschen, und hinter dem Steuer hockten weißgeschminkte Herren mit ziemlich auffälligen Hüten.
Verdächtig aber war vor allem die kuriose Figur auf dem Dach des Magirus-Deutz. Die winkte, gestikulierte und sah mit ihren roten Strümpfen, Pumphosen und wirrem Haar ganz so aus, als kommandiere sie ein straßentaugliches Narrenschiff. Dabei dirigierte die lustige Person nur einige Takte der Ouvertüre zu "Ting: Kunst - Sachsen Anhalt", einem Projekt, das 1999 regionale Kunstszene und potentielles Publikum vernetzen soll. Schauspieler Tom Wolter schlich sich gestern und vorgestern schon mal an die Hallenser ran.
"Laster der Nacht" sollte die erste allgemeine Verunsicherung im öffentlichen Raum sein. Doch in Fahrt kam die müde Improvisation erst, als der Theaterkarren Gas gab, um durch die Straßen zu rollen. Zwar wurden weder Lasterhaftigkeit noch Verderbnis transportiert, wie sie der Titel suggeriert hatte. Aber in der letzten dreiviertel Stunde der zunächst eher autistischen Aktion gab es dann doch reichlich Situationskomik. Mitwirkende: ein violinespielender Schalk, begeisterte Passanten samt Hunden, gutgelaunte Polizisten und eine äußerst verärgerte Oma ("Machen Sie den Krach aus!"), die von Sympathisanten zurechtgewiesen wurde. "Das ist endlich mal was anderes", applaudierte Zuschauerin Annett Honscha, die der mobilen Performance zwei Stunden lang gefolgt war, " schlafen kann man doch immer." Aber ob die Operation "Laster" wirklich massenweise Leute wachmachen wird?
Gestern nachmittag startete "Tagesakt", Teil zwei des öffentlichen Experiments. Ein Schauspieler -Duo schlug am Leipziger Turm eine Baustelle auf, doch nahezu niemand nahm Notiz. Wieso? Weil die Akteure mit Bauhelm, Zollstock und orangefarbener Reflektor-Weste lebensecht ausgestattet waren? Nein. Sondern weil sie zwar ein wenig unbeholfen mit Schildern und Absperrung hantierten, ansonsten aber das Künstliche an ihrem Unternehmen nicht herauskehrten. Immerhin, mit zu-nehmendem Wind ließen Wolter und Kollegen Planen fliegen, verwickelten sich und ihr Fahrzeug, versperrten Fußgängern den Weg. Das letztere ungerührt Eis leckten - demonstrierte das kollektives Desinteresse an der Kunst?
Oder war die inszenierte Störung von ganz normaler Bau-Belästigung einfach nicht zu unterscheiden? Falls ja, dann würde hier Bedeutungslosigkeit kultiviert. Dann würde Verkleidung à la versteckte Kamera zum Artefakt aufgeblasen. "Nicht unbedingt", findet zumindest Joachim Penzel, Pressesprecher des Projektes. "Wir wollen keine Kunstwerke präsentieren, sondern Situationen schaffen, in denen die Künstler spontan auf Unvorhersehbares reagieren können." Ist Ting eine Spielwiese für Artisten? Nein sondern ein Test, was passiert, wenn Kultur-Angebot und KunstKonsum mal "anders als sonst" funktionieren sollen. Vielleicht passiert ja auch gar nichts. Aber so etwas kommt manchmal auch bei den teuersten Theater-Spektakeln vor.
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