Menschenfreundliches, allzu Menschenfreundliches Honoré Daumier und seine Philantropen-Galerie Honoré Daumier war nicht nur ein begnadeter Zeichner, dessen elegante Linienführung und lustvoll überzeichnende Genauigkeit ihn schon zu Lebzeiten berühmt werden ließen. Seine Lithographien – viele erschienen in der satirischen Tageszeitung „Le Charivari“ auf der berühmten dritten Seite - mischten sich neben seinen Angriffen auf die wiederholt im Raum stehende Monarchie auch gehörig in die kleinen menschlichen und die großen politischen Unarten seiner Zeit ein. Zivilisatorische Neuerungen wie die Schwimmmode, das Verkehrswesen oder die Mode bargen zahlreiche Schattenseiten und gaben ein hervorragendes Aktionsfeld seiner Betrachtungen. Dass die als Lithografie angelegten Blätter täglich in hoher Auflage erschienen und damit durchaus erschwinglich waren, ist eine weitere Komponente von Daumiers Einmischung in die sozialen Verhältnisse seiner Zeit. Seine Zyklen zum Geschehen in Opern oder die häufigen Darstellungen der Grafiksammler geben ein beredtes Zeugnis von Daumiers Beschäftigung mit der Frage, wie Kunst wahrgenommen wird. Honoré Daumier
Blatt 1 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 15.09.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Der 1844 erschienene
Zyklus „Les Philantropes du jour“ (Die Menschenfreunde von heute)
entwirft einen auch heute noch bedrückend aktuellen Reigen von
analytischen Blicken auf das Gutmenschentum seiner Tage. Die
rücksichtslos-ignorante Selbstinszenierung der Machtelite war ein
Hauptangriffsziel seines Spottes. Und dass man sich anlässlich von
Wohltätigkeitsbällen sehr gut kleidet, gut essen kann und vielleicht
auch noch ein wenig tanzen, unterscheidet die Situation bei Daumier
kaum von heutigen Zuständen. Honoré Daumier
Blatt 5 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 27.09.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Dass beispielsweise die Herrschaften keine Überzieher aus Gefangenenarbeit kaufen
wollen, liegt beispielsweise daran, dass sie den ärmlichen
Produktionsverhältnissen dort keine ihren eigenen Ansprüchen
angemessene Qualität zutrauen. Der Hinweis auf die wirkliche Wertschätzung der von
Armen geleisteten Arbeit trägt zusätzlich zu Daumiers Abrechnung
mit den Auswüchsen des organisierten Gemeinwesens seiner Zeit bei. Honoré Daumier Blatt 7 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI; 09.10.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Unter
der Flagge des Philantropismus gab es auch früher bereits eine ganze
Menge gesellschaftlicher Anlässe. Eine Gesellschaft zur Mäßigung findet
allmählich zusammen. Immerhin ist gerade der 43te Toast auf die Ziele
ausgebracht und begossen worden - ohne große Rücksicht auf
Kollateralschäden. Honoré Daumier
Blatt 8 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI; 12.10.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Ein Menschenfreund hat es mit der schamlosen Übertreibung einer möglichen Hilfestellung bis in die Zeitung geschafft. Das
Spektrum von Daumiers Humor bedient dabei eine weite Klaviatur: vom
Schmunzeln des leichten Missverständnisses reicht es bis weit in die
beißende und geradezu zynische Satire. Auch sein viel gerühmter
zeichnerischer Stil ist ein Erfolgsrezept: der Meister bedient virtuos die Erwartungen an eine
treffende naturalistische Darstellung. In durchaus
kontrollierter Überzeichnung führt er sie in die Gefilde der Karikatur weiter und erschließt ihnen so Neuland. Honoré Daumier
Blatt 9 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 26.10.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Die Umwälzungen im
neunzehnten Jahrhundert, die den Hintergund für Daumiers Karikaturen
bilden, haben nicht gerade wenige Parallelen zu heute. Die um sich
greifende Vorherrschaft rein wirtschaftlichen Denkens stellte viele
traditionelle Werte in Frage. Humanismus und Christentum tauchen in
seinen Bildern und deren Texten gekonnt überspitzt in Zitaten und
Anspielungen auf. Nicht selten verfolgt
Daumier eine Doppelstrategie: sie lässt solche Konventionen als hohle
Formeln erscheinen und macht sich gleichzeitig über die damit
verknüpften neuen Vorstellungen des Bürgertums lustig. Zum Beispiel
ziert eine Caritas-Allegorie als Bild an der Wand die Besprechung der
philantropsichen Gesellschaft, die sich so ganz und gar nicht
karitativ äußert. Honoré Daumier
Blatt 10 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 15.10.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Zur Sprache kommen ebenso die Selbstgefälligkeit
der Schenkenden oder die Überbetonung der öffentlichen Auftritte,
die den beschenkten Armen in aller Regel zusätzlich verelendet. Auch
die karitativen Scheinfirmen oder die satirisch überzeichnete
Distanz zwischen der gutbürgerlichen Gesellschaft mit ihren fetten
Gehältern, Banketten und Auszeichnungsszenarien gerät ins Bild. Die eigentümliche Doppelmoral der Wohltätigkeitsbälle prägt ein
anderes Blatt. Honoré Daumier
Blatt 15 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 08.11.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Ein
befrackter Herr erhält einen Preis für seine wissenschaftliche
Arbeit, weil er bewiesen hat, dass die Armen arm sind, weil sie kein
Geld haben. Letztlich mahnt
Daumiers Zyklus eine Diskussion um verschwindende humanistische Werte
an, die in seiner Zeit allem Anschein nach ziemlich aus der
allgemeinen Optik verschwunden sind. Dass dabei unter anderem gerade
die selbsternannten Menschenfreunde seiner Tage sich immer wieder in
den Vordergrund spielen und auch so die Totengräber einer genaueren
Wahrnehmung sozialer Missstände sind, mutet dabei erschreckend
aktuell an.
Honoré Daumier Blatt 20 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI 30.11.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Auch unter Menschenfreunden geht
es keineswegs immer friedlich zu. Die Ordnungsklingel in einem Salon
kann gerade noch einmal eine Schlägerei unter diesen gesetzten
Herrschaften der Gesellschaft für den universellen Frieden verhindern. Honoré Daumier
Blatt 23 aus: Les Philantropes du jour Lithographie, LE CHARIVARI, 23.12.1844 zum Text und zur Übersetzung |
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Auch das Geschäft mit der
publizistischen Vermarktung des Elends hat recht deutliche Parallelen
zu heute. Dem Herrn links ist es völlig unmöglich, sich die traurige
Geschichte des Gesprächspartners anzuhören, weil er bereits damit
beschäftigt ist, gleich zwei Sekretären Elendsgeschichten zu diktieren.
Honoré Daumier
Blatt 32 aus: LES PHILANTROPES DU JOUR Le Charivari, 12.01.1845 zum Text und zur Übersetzung |
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Philantropie gibt es auch unter
Geschäftspartnern: man hat gerade einen Konkurrenten geschluckt
und drückt ihm aus lauter Menschenfreundlichkeit auch noch alle
zusätzlichen Kosten der Fusion aufs Auge. Kein Wunder, dass es diesem
die Sprache verschlägt. Honoré Daumier
Blatt 34 aus: LES PHILANTROPES DU JOUR Le Charivari, 12.01.1846 zum Text und zur Übersetzung |