Ludger
Gerdes
Eigentümliche Zweigleisigkeiten haften dem Werk des Malers und Bildhauers
Ludger Gerdes an. Während seine Malerei in großen Formaten spezifischen
Fragen der Oberfläche, der Bildrealität und des malerischen Auftrags
nachgeht, bringt seine Plastik anderes zum Tragen: die Objekthaftigkeit
von Dingen, ihren Realitätsgrad sowie ihre öffentliche Funktion. Gerade
mit dieser letztlich politischen Stellung der Kunst beschäftigt sich
Gerdes nicht nur als bildender Künstler, sondern sehr wirksam auch als
theoretischer Autor und Vortragender.
Zwischen visueller Form und verbaler Aussage gibt es mehr als nur eine
Verbindung im Werk von Gerdes. Mit großformatigen Buchstaben hat er
eine nachhaltig wirksame Skulptur im Garten des Krefelder Museums Haus
Lange geschaffen: ICHS steht dort zu lesen, in gelben schlichten
Großbuchstaben auf der Mauer am Rande des Gartens geschrieben. Das lakonische
Wort ruft im Zusammenhang dieses Horts individueller künstlerischer
Form- und Sinnsuche eigentümliche Fragen hervor. Gibt es überhaupt eine
Mehrzahl von "Ich" und warum heißt sie nicht "Wir"? Wirkt das Wort nur
im Zusammenhang mit dem Museum, dem Ort der Kunst, dessen problematische
Funktionen Gerdes wiederholt zum Gegenstand seiner Betrachtungen macht?
Trifft er mit seiner gestalteten und verbal ausgedrückten Form überhaupt
eine gesellschaftskritische Aussage?
Das Material und das Motiv der ICHS ist "gewandert". Am Rande
eines Freizeitgeländes in Aschaffenburg hat sich die Arbeit einen neuen
Kontext mit kunstfreier Natur geschaffen. Im Wechselspiel mit den Worten
"Können", "Dürfen", "Wollen", "Sollen", "Müssen" und "Sterben" erlangt
sie eine Absolutheit, die für sehr viele Sichtweisen kaleidoskopartig
offen ist. Gerdes hat diese Worte nicht nur in einzelne Sandsteine gehauen
und zu einem Kreis um einen Teich des Projekts "Skulptur im Tal" gruppiert,
sondern auch in einen grafischen Zyklus umgesetzt.
Hier ist der Bildgrund mit verschiedenfarbigen steinartigen Strukturen
gestaltet. Einige der nunmehr gedruckten Buchstaben tauchen in Spiegelschrift
auf und versetzen der einfachen Lesbarkeit störende Impulse.
Das Nebeneinander von grafischer Arbeit und öffentlichen dreidimensionalen
Projekten ist keine Seltenheit im Werk von Ludger Gerdes. Auch sein
berühmt und im besten Sinne populär gewordenes, in die Landschaft von
Münster eingebettes Schiff taucht als grafisches Motiv auf. Was jedoch
in der Natur auf allgemein einleuchtende Weise als Gebilde aus Steinen,
Wassergraben Pappeln und einem Pavillon verblüffend figürliche Gestalt
annimmt, taucht im grafischen Zyklus als kleines Pictogramm auf einer
großen und sauber eingefassten blaugrünen Fläche auf. Zudem ist das
Blatt im Zusammenhang des Zyklus einer zweiten Grafik zugeordnet, auf
dem sich an gleicher Stelle das Wort "Unterkomplexität" findet. Gerdes
fordert vom Betrachter die Reflektion eines Vorgangs ein: Es geht um
den Brückenschlag zwischen dem Allgemeinverständlichen und - möglicherweise
auch überkomplexen - künstlerischen Fragestellungen.
Charakteristisch für Gerdes ist eine weitere in der Artothek im Bonner
Kunstverein entleihbare Arbeit. Ein kleiner Jonny Walker läuft, auf
einem Sockel postiert, in einigem Abstand an einer Wandfläche entlang.
Während er in der linken Hand den gepflegten Wanderstab trägt, hebt
seine Rechte offensichtlich eine Stabbrille vor die nicht sichtbaren
Augen. Quasi im Rücken der Figur stehend, kann man recht gut nachvollziehen,
was Johnny Walker sieht: eine Komposition von vier Stäben, die wie Windmühlenflügel
ein leeres Wandstück umgeben. Der Rest eines fünften Flügels läßt jedoch
ahnen, daß eine weitläufigere Wandgestaltung vorliegt. Gerdes hat diese
Szene als Foto herausgegeben. Mit dem leicht
unterstellten Wahrheitsanspruch, daß sich ein solches Geschehen wirklich
zugetragen hat, verbindet sich eine distanzierte, zurückhaltende Sichweise,
die den Betrachter als zusätzlichen vorbeispazierenden Voyeur neben
Johnny Walker, Ludger Gerdes und seiner Kamera einbindet.
Johannes Stahl 3/96
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