Flächen und Räume

Rein physikalisch betrachtet bestehen Bilder fast immer aus Flächen. Wen wundert es, wenn sich Künstler mit dieser Grundlage ihres Arbeitens immer wieder auseinandersetzen? Ein vielfältiges Spektrum an Überlegungen, Techniken und Resultaten ist über die Jahrhunderte entstanden, und diese künstlerische Forschung nach den Grundvoraussetzungen jeder Gestaltung schließt ganz selbstverständlich die älteren Kunst-Gattungen Architektur, Malerei, Plastik, Zeichnung und Grafik ebenso ein wie jüngere Entwicklungen, von denen hier besonders die Fotografie oder alle Formen elektronisch bearbeiteter Bildwerke zu nennen sind.

Die Auseinandersetzung mit der Geometrie prägt gerade die Kunst unseres Jahrhunderts stark. Insbesondere seit Wassily Kandinsky in seinem epochemachenden Buch "Punkt und Linie zu Fläche" wesentliche Überlegungen seiner am Bauhaus vertretenen Lehre dargestellt hat, sind Künstler den geometrischen Grundlagen von Gestaltung im Wort und mit Bildern intensiv nachgegangen. "Konkrete Kunst", "Op(tical) Art" oder "Minimal Art" haben immer wieder die physikalische und kompositorische Grundlage von Kunst betont - und daneben auch gezielt über deren Wirkungsweise nachgedacht.

Mit dem Malgrund beschäftigen sich Künstler allein aus technischen Gründen oft: was eine Leinwand im Gegensatz zu einer Wandfläche für ein Bild bedeutet, wie stark unterschiedliche Oberflächen verschiedener Papiersorten das Malerische oder zeichnerische Geschehen beeinträchtigen, sind traditionell stark diskutierte Fragen der Künstler. Wenn nun eine umfassende gestalterische Prägung der Umwelt auch als Belastung empfunden wurde, kontern Künstler die Alltagsbilder spielerisch oder konzeptuell-streng, durch reale Übermalung und ironisches Zitat. Tapeten und Gestaltmuster bilden beispielsweise die Ausgangsfläche für die "Tapetenbilder" von Horst Gläsker; die radikal reduzierten Zeichnungen eines Lutz Fritsch fußen auf seiner sehr wachen und kritischen Wahrnehmung der städtischen Umwelt. Altvertrautes wird einer optischen Nagelprobe unterzogen, sehr eigenständige Bildwelten entwickeln sich daraus.

In einer Zeit knapper Räume spielen die Freiräume für Gefühle und Gedanken im Bild eine besondere Rolle. Dies galt auch schon früher in der Kunstgeschichte für die Gattung der Landschaftsdarstellung, die sich just zu der Zeit sehr emotionsgeladen entwickelte, als man begann, die reale Landschaft zu industrialisieren. Die "Komposition" eines wahrgenommenen Landschaftsausschnittes, ihre Auflösung in farbigen Schatten und malerischen Schichten bilden auch heute wichtige Themen der künstlerischen Arbeit, beispielsweise in den Bildern und Grafiken Michael van Ofens oder Anna S. von Hollebens. Aber auch die in andere Bereiche übertragende Betrachtung, die Bogomir Eckers "Einbahnstraße der Ohren" in den Mittelpunkt rückt, fußt letztlich auf einer künstlerischen Auffassung, die schon Caspar David Friedrichs romantische Landschaftsbilder kennzeichneten: der Möglichkeit, Landschaften oder ihre Elemente mit Bedeutungen zu besetzen, die den Menschen, seine Psyche und sein soziales Umfeld meinen.

Zum Raum hin entwickeln sich seit den sechziger Jahren auch die künstlerischen Ansätze, die den Umgang mit Kunst zum vorrangigen Gegenstand der Beschäftigung wählten. Die jeweilig individuelle Erlebnisweise des Betrachters mit einem flächigen oder räumlichen Gebilde, die starke Wirkung einzelner Linien und Farben auf Raum und Gemüt bilden einen Leitgedanken für Künstler wie Franz-Erhard Walther, Rupprecht Geiger oder Michael Witlatschil.

Die meistbeachtete Flächen unserer Tage sind Mattscheiben. Was sich an elektronisch übermittelten, verarbeiteten und gespeicherten Bildwelten auf der immer gleichen Rechteckform des Monitors zeigt, kann selbstverständlich auch Erbe dieser künstlerischen Tradition sein. An der Mattscheibe erzeugte Bilder - auch wenn sie dann auf Papier festgehalten werden wie die Plotterzeichnungen eines Horst Rave oder die Raumbesetzungen, die Felix Stephan Huber mittels eines Computerprogramm durchführt, zeigen deutlich, daß auch zwischen diesem Austragungsort von künstlerischer Arbeit und den darin zur bildnerischen Sprache kommenden Gedankenwelten mehr als nur eine Beziehung existiert.

Johannes Stahl, 3/96



Literatur

- Kandinsky, Wassili: Punkt und Linie zu Fläche. Bern 1973.
(Orig. München 1926 (=Bauhaus-Bücher Bd.9)
- Der freie Raum. Ausst.Kat. München (Galerie Waßermann) 1990
- Franz, Erich (Hg.): Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945. Ausst.Kat. Münster (Westf. Landesmuseum) 1993
- Mer/Feuerstein/Strickner: Translokation. Der ver-rückte Ort. Wien 1994


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