Pflaster, Flicken, Broschen, Nähte

Stichworte zu einem Spaziergang im Hallischen Stadtbild
von und mit Johannes Stahl (Mai 2013)


Guided Tour
Die Stadtführungsbranche boomt gerade vorsichtig. Immer häufiger werden in den Zentren Touren angeboten, die das Stadterlebnis in geregelte Bahnen lenkt. Die Spektren sind vielfältig. Angebote existieren für unzählige spezielle Aspekte: der geschichtliche Rundgang, die Einkaufsführung, Brauhauswanderweg, Mystical Walk, Crime Tour oder Comedy Walk. Die genutzten Medien haben sich ähnlich ausdifferenziert: von klassischen Formaten des persönlichen „Stadtbilderklärers“ und dem gedruckten Städteführer reicht die Skala inzwischen weit in den Bereich neuer Medien hinein: herunterladbare Audioguides, die wie Hörspiele inszeniert sind, QR-Codes für die Besitzer smarter Mobiltelefone, ausleihbare Videoführer (noch sind die Blickrichtungen ihrer Benutzer nicht durchgehend untersucht) oder gar interaktive Zonen, in denen akustische Informationen elektronisch ausgelöst werden – für denjenigen der das möchte. Hier hat sich viel getan, seit man in Frankreich das internationale Wort „Walkman“ durch das französische „Baladeur“ versuchte zu ersetzen: das Wort kam nicht etwa von den Balladen, die man darauf hören konnte, sondern von „balader“. Es war also das Gerät, welches man zum Spaziergang nutzen kann. Der Versuch der Sprachregelung war übrigens wenig erfolgreich.

Einige Unklarheit besteht auch über die Fortbewegungsart. Natürlich ist der Weg zu Fuß fast immer eine ideale Lösung. Der britische Doppelstöckerbus bietet eine ganz schöne Aussicht, die Texte von den Bändern sind aber notgedrungen sehr allgemein, wegen des sehr unterschiedlichen Klientels. Straßenbahnen sind auf das Schienennetz angewiesen – was oft nicht deckungsgleich ist mit den touristischen Attraktionen. Pferdedrosche und Rikscha sind in Halle noch nicht (ja, es gibt Gerüchte) angekommen. Geführte Radtouren haben es mit dem in Halle besonders ruppigen Pflaster zu tun, das selbst schon ein gerüttelt Maß an Aufmerksamkeit verlangt.

stadtbild

Pflaster
Unterm Pflaster liegt der Strand. So argumentierten in den wilden 1968er Jahren die unruhig gewordenen Studenten. Pflastersteine flogen und tatsächlich war manchmal Sand drunter. Aus den Städte wurde dadurch allerdings noch lange kein Strand. Im Gegenteil, die Unwirtlichkeit unserer Städte, die Alexander Mitscherlich in seinem gleichnamigen Buch von 1965 festgestellt hatte, wurde wahrscheinlich nur noch eher bewusst. (Im Untertitel hieß es: Anstiftung zum Unfrieden). Sei es unter dem Pflaster oder einem anderen Belag der Straße, sei es hinter den oft nicht mehr sehr transparenten Fassaden oder sei es hinter dem vom nächtlichen Schmutzlicht verdeckten Himmel: Es ist zu vermuten, dass sich hinter der üblichen Benutzeroberfläche unserer Städte andere, anregende und „unsichtbare Städte“ verbergen, wie sie der italienische Schriftsteller Italo Calvino beschwor.

pflaster

Schneisen
Vielerorts haben massive Verkehrsplanungen heftig in den gewachsenen Organismus von Städten eingegriffen. Die Ringe, die nach Wiener Vorbild fast überall in Mitteleuropa historische Stadtmauern durch Straßenführungen ersetzten, waren nicht nur ein gigantisches Stadtentwicklungs- und nicht zuletzt Investitionsprojekt. Sie markierten auch einen Paradigmenwechsel von der Abschottung zum besonders betonten Erschließungsgedanke, von der Freiheit durch Stadtmauern zur Freiheit durch Mobilität. In den Trümmerstädten der Nachkriegszeit bekam diese Entwicklung einen neuen und verstärkten Schub. Enteignungen für neue Straßen waren viel diskutiert – egal ob es die Rollbahnen für den Kommerz waren oder die breiten Demonstrationsstraßen mit abschließendem Aufmarschplatz, der in der DDR vielen neuen Stadtgrundrissen zugrunde lag. In vielem griff man auf Utopien der 1920er Jahre zurück. Hochstraßen erschienen da besonders der „Zukunft zugewandt“. Nach dem Abriss des legendären „Tausendfüßlers“ in Düsseldorf und der beschlossenen Sanierung der Hannoveraner Hochstraße ist es auch recht klar, wie ideologisch diese Monumente im Stadtraum besetzt sind. Dass die Hallesche Hochstraße am schon früher riesigen Kreisel des Riebeckplatzes startet und dann in Höhe des ersten Stocks am Franckeschen Waisenhaus entlang führt, um zur Neustadt zu kommen: da manifestiert sich nicht nur der Stolz auf technisch Machbares, sondern auch ein Verhältnis zur Geschichte.
Wenn im Forst eine Schneise entsteht, gibt es immer auch einen neuen Waldrand. Vormals Innenliegendes bildet mit einem Mal die Schauseite und ist manchmal mit dieser Aufgabe überfordert.


schneise

Flicken
Halle hat ein vergleichsweise geschlossenes Stadtbild - im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten. Das liegt am geschichtsträchtigen Halleschen Sonderweg, der die Stadt vor dem Flächenbombardement für alle anderen deutschen Städte über 100.000 Einwohner verschonte. Gerade dadurch fallen jene Stellen auf, an denen sich entscheidende städtebauliche Änderungen abzeichnen. Oft sind es nicht nur die akzeptiert schönen und touristisch beworbenen Stellen, welche die Atmosphäre der Stadt prägen. Das historische Rathaus war ein Volltreffer. Es ist erlaubt darüber nachzudenken, was dieser politisch bedeutet. Im Grundriss des damit stark erweiterten Marktplatzes kann man das Rathaus noch ausmachen. Möglicherweise ist es aber interessanter darüber nachzudenken, was die jetzigen Platzhirschen am Markt bedeuten.

Wiedergutmachung, Halle-Neustadt

Broschen

Die Diskussion um Kunst am Bau als Brosche auf der Architektur ist durchaus schon älter. Dennoch: wenn die städtebauliche oder architektonische Form im Vordergrund der Planung steht, bleibt oft kaum etwas anderes als die nachträgliche Anbringung einer zusätzlichen Gestaltung. Im günstigen Fall existieren Traditionen, in denen eine solche Praxis längst akzeptiert ist, eine weitsichtige Planung entsprechende Stellen vorgesehen hat und die ausführenden Künstler mit diesen Rahmenbedingungen einverstanden sind. Dort wo weniger Konsens die Grundlage bildet, kommt es zu Konflikten: die Kunst als Konter auf die Architektur, die architektonische Umgestaltung als Beschneidung des Wirkungsraums für Kunst beispielsweise. Häufig bildet auch die tägliche Praxis mit den entsprechenden Beschilderungen, Reklamen oder die Umnutzung von Gebäuden eine erweiterte Kampfzone. Gestritten wird dann nicht nur um das, was an gestalterischem Konsens noch möglich ist, sondern vor allem um das kostbare Gut der Aufmerksamkeit. Oft wird aber wenig gestritten, sondern eher daran vorbei geschaut.

staedtebau

Stille Plätze unserer Stadt
Die Idee des Platzes, wie sie durch die Jahrhunderte existiert hat, ist heute hoch problematisch geworden. Wer den Stadtplan von Halle durchgeht, wird eine Vielzahl von immer noch so genannten Plätzen antreffen, die kaum noch eine sammelnde oder gar kommunikative Funktion wahrnehmen, wie sie historisch für viele Plätze angenommen werden kann. Kann man diesen Bedeutungsverfall immer auf die Nutzung als Verkehrsort schieben? Welche Ziele steuert man vom Platz aus an – und welche Wege über den Platz muss man zurücklegen?
Halle ist vergleichsweise reich an städtischen Innenraumplätzen. Das liegt nicht zuletzt an der relativ gut erhaltenen Blockrandbebauung. Allerdings existieren mindestens ebenso viele Plätze, die weder gestalterisch hervorgetreten noch sozial interessant sind – sieht man einmal von zahlreich geparkten Autos ab oder gar eventuell aufkommenden mulmigen Gefühlen an einschlägigen Orten ab, wo menschliche Kontakte der weniger erfreulichen Art zu erwarten sind.
Aber: sollte nicht gerade hier über Gestaltung nachgedacht werden.

Gärtnerische Lösung für ein ungeklärtes Platzproblem, Halle 2006

Nähte
Im Fußball sind Nahtstellen viel diskutierte Grenzbereiche zwischen zwei Zuständigkeitsbezirken von Spielern. In Nahtstellen hinein zu spielen, bedeutet immer auch, Unruhe für das Spiel zu produzieren.
Eine recht spezielle Atmosphäre entsteht in städtebaulicher Hinsicht dort, wo unterschiedliche historische Epochen mit den entsprechenden Gestaltungsvorstellungen aufeinander treffen oder der Gang der Zeit sein eigenes Bild geschaffen hat. Wer als Gestalter dort interveniert, hat es mit aufgeladenen Situationen zu tun. Historische Lesarten und aktuelle Nutzungen bilden eine unklare Gemengelage, Materialien sind nicht aufeinander abgestimmt, und auch die Nutzungen von Orten zu unterschiedlichen Tageszeiten können sich als Nahtstellen zwischen höchst unterschiedlichen Zielvorstellungen herausstellen – und vor allem den Menschen, welche diesen Zielen nachgehen. Es lohnt sein Augenmerk besonders auf diese viel-sagenden Stiefkinder der alltäglichen Wahrnehmung zu richten. Man erfährt vieles mehr über diese unbetonten Orte – und nicht zuletzt darüber, wie Stadt funktioniert.

Millau (F), Kulturzentrum