Münster 007: Kinder als Zielgruppe eines Kunstvermittlungsbuchs
Ein Interview mit Johannes Stahl
Sie haben ein Kinderbuch zur Ausstellung Skulptur Projekte in Münster 2007 gemacht. Da haben sich doch eine ganze Reihe Fragen ergeben?
Genau gesagt war ich der Textautor. Wir hatten etliche Diskussionen: Welchen Ansatz, welche Struktur wollen wir? Das lag ja keineswegs von vornherein fest. Zwischen Katalog, Reiseführer und Roman als jeweils etablierten Formen sahen wir etliche Möglichkeiten. Ich denke auch, man hat mich bewusst als Schreiber ausgesucht, weil ich noch kein Kinderbuch gemacht hatte. Es war Programm, da etwas wirklich Neues zu entwickeln. Das brachte allerdings auch eine Reihe Fragen mit sich, mit denen ich noch nicht konfrontiert gewesen war. Gibt es so etwas wie ein Lesealter? Was macht eigentlich ein Kinderbuch zu einem Kinderbuch? Aus zahlreichen Projekten mit Kindern vom Kindergartenalter bis hin zum Jugendlichen hatte ich die Erfahrung gemacht, dass man sie wirklich nicht unterschätzen sollte. Im Gegenteil, ich war immer wieder verblüfft über die Genauigkeit des Blicks, die bei Erwachsenen fehlende Fähigkeit zu Gedanken- und Assoziationssprüngen, die Freude am Unerwarteten.
Sie haben eben gesagt „wir“. Wer war das?
Das Buch hat in der Tat eine interessante Entstehungsweise. Wir haben wirklich gemeinsam das Buch entwickelt. An einem größeren Tisch mit inspirierend leckeren Brötchen saßen: jeweils ein Betreuer eines künstlerischen Projekts, der es uns vorstellte, mit Christoph Mett und Philipp Seefeldt zwei Illustratoren, die am Ende ihres Studiums standen sowie ihr Professor Markus Herrenberger, Martin Schmidl als der Chefdesigner des gesamten Projekts, Annkathrin Gründer als die organisatorisch Verantwortliche für dieses Buch, Heike Kropff als Gesamtverantwortliche für das Vermittlungsprogramm, manchmal noch lernende Gäste und ich als Autor. Es war eine wirklich eigentümliche Zusammenarbeit: der wunderbar stolpernde Titel „Was ist ein Skulptur Projekte“ stammt von Martin Schmidl, Textideen kamen von den Organisatorisch Verantwortlichen, einige Bildideen konnte ich beisteuern, die Illustratoren machten entscheidende Vorschläge für das Konzept und so weiter. Dieser direkte und frühzeitige Austausch aller an Informations-, Produktions- und Vermittlungsebenen Beteiligten funktionierte erstaunlich gut. Wir haben da nicht nur viel gelacht, sondern auch viel gelernt über die Arbeits- und Herangehensweise anderer Sparten. Viele Details haben wir in kleineren „Fachgruppen“ ausgefeilt.
Das hört sich wunderbar an. Es gab überhaupt keine Probleme?
Doch, uns machte die knappe Verfügbarkeit von Vorabinformation schon etwas zu schaffen. Der Redaktionsschluss für das Buch lag deutlich vor der Fertigstellung der Arbeiten, und mehr als einmal kam es noch zu überraschenden Planänderungen und auch noch zu neu ins Programm gerufenen Künstlerpositionen. Dadurch mussten wir teilweise ein wenig prophetisch sein. Vor allem aber ergab diese Situation unerwartete Freiräume. Und für die Illustration, für den Text sind gestalterische Freiräume eine gute Herausforderung. Ich denke auch, dass unsere Leser durch diese notwendigerweise offene Form auch für ihre Wahrnehmung der Ausstellung profitiert haben. Immerhin sind die Kapitel „Entdeckertouren“ und das gesamte Buch ist eine Detektivgeschichte.
Haben Sie alle Künstler auf einmal vorgeführt bekommen?
Nein, das Buch ist schrittweise entstanden – wie sich ja auch das gesamte Projekt allmählich und am Ende fast stürmisch entwickelte. Pro Sitzung haben wir es mit etwa fünf neuen Positionen zu tun bekommen. Das ist insgesamt ein Zeitraum von einem dreiviertel Jahr gewesen. Und am Anfang mussten wir uns ja auch noch über das Gesamtkonzept des Buchs klar werden.
Was ist es denn jetzt genau für ein Kinderbuch?
Das „Buch“ als Vermittlungsformat hat verschiedene Ebenen und Funktionsweisen. Man kann es als „Führer“ zur Ausstellung benutzen. Fünf verschiedene Touren führen stadtviertelweise zu den jeweiligen Arbeiten. Markus Herrenbergers Überblickskarten zum Anfang funktionieren dann wie eine „Schatzkarte“. Das ist übrigens die einzige Partie des Buchs, wo wir mit Fotos gearbeitet haben. Gleichzeitig ist das Buch ein Roman: die „Heldin“ oder der „Held“ - das Geschlecht habe ich offen gelassen - greift dreizehnjährig im väterlichen Detektivbüro einen Auftrag ab: herauszufinden, was eine Skulptur ist. Ganz am Ende stellt sich übrigens heraus, dass der Auftrag aus dem Museum kommt, das diesbezüglich anscheinend selbst ungelöste Fragen hat. Mit dieser Rahmenhandlung hat das Buch nicht nur seinen eigenen Erzählbogen, sondern kann auch als Distanzierungs- und Reflektionsmedium funktionieren. Anders gesagt: es hat ein Bildungsanliegen.
Welche Zielvorstellungen haben Sie außerdem mit dem Buch verfolgt?
Wir wollten gute Verkaufszahlen. Das Buch ist in einem renommierten Münsteraner Kinderbuchverlag erschienen, und auch der wollte natürlich, dass es sich rechnet, über die grundsätzliche und dankenswerte Förderung durch die Sparkasse Münsterland Ost hinaus. Es hat immerhin auch eine zweite Auflage erfahren.
Eine andere Zielvorstellung war das Hausbuch: eine vergleichsweise konventionelle Lektüre, die innerhalb der Familie funktionieren kann, wo die Kinder Detektive sind und die Eltern möglicherweise auch Spaß haben an den Überzeichnungen der Situationen – und dass alle auch ein wenig gefordert sind durch das, was wir im Buch offen gelassen haben.
Ein weiteres Ziel war: wir wollten gerne, dass dieses Buch über die Laufzeit der Ausstellung hinaus in Bibliotheken zu finden ist. Deshalb ist es gut ausgestattet und beispielsweise kein Spiel- und Bastelbuch geworden. Wir hätten uns auch selbst widersprochen, weil im Buch eine Paralelle auftaucht zwischen den konsumierbaren Malbüchern und der Stadtmöblierung mit bemalten Symbolfiguren, die Andreas Siekmann mit seiner Arbeit angreift.
Können sie noch etwas genaueres sagen zu Kindern als ihrer Zielgruppe?
Kinder sind recht selbstbewusst. Sie wissen, was sie wollen und was ihnen Sparß macht. Das muss man ernst nehmen. Ihre Neugier, die ausgesprochene Entdeckerfreude sind ein wichtiges Potential, wenn es um Bildung geht. Kinder wollen es wissen. Die Unvoreingenommenheit und der Spieltrieb sind andere Stellen, wo man ihnen begegnen kann. Eine absurde Idee, wie ein Wohnwagen, der alle zehn Jahre nach Münster kommt und feststellt, was sich alles ändert: das ist für Kinder viel normaler als für Erwachsene.
Allerdings sind Kinder weniger an Struktur orientiert als Erwachsene. Die Karten mußten schon sehr gut verständlich sein. Auf den schärferen Blick kann man sich dann verlassen, wenn es darum geht, einen in fünf Meter Höhe verlaufenden Faden rings um Münster zu erkennen wie in der Arbeit von Mark Wallinger.
Gibt es etwas, was wir jetzt vergessen haben?
Ja, einige Nebenzielgruppen hatten wir gar nicht so auf der Rechnung. Man darf nicht unterschätzen, wie viele Erwachsene eine ausgesprochene Vorliebe für einfachere Sprache haben, und entsprechende Vorurteile gegenüber jeglicher kunstvermittelnder Literatur. Auch Leseunlustige mögen hin und wieder ein Buch, wo mehr Bild- als Textanteil ist und die Illustration Einfachheit suggeriert. Wenig gedacht hatten wir an Ausländer, die Verständnisschwierigkeiten mit Deutsch haben. Die lesen häufiger Kinderbücher, als man zunächst denken mag.
Und schließlich freut uns, dass auch Fachleute aus dem vermittelnden und pädagogischen Umfeld mit unserer Publikation etwas anfangen konnten und es positiv rezensierten.
Ein Fazit?
Wir haben vergleichsweise gewohnte Medien und Formate genutzt, aber im ungewohnten Umfeld dieser Großausstellung. Diese Kontextualisierung hat gut geholfen, das Buch zum Erfolg zu machen. Dinge offen zu lassen, ist gerade auch durch diese vertrauten medialen Wege möglich geworden. Auch das Kind ist sind dieser immer wieder geforderte und in den Formen nicht immer eingelöste mündige Betrachter.
Dann war der direkte und frühzeitige Austausch zwischen Informations-, Produktions- und Vermittlungsebene eine Herausforderung an das vermittelnde Gespür aller Beteiligter.
Zuletzt: was blieb offen?
Fast wie immer: Kunst und Kunstvermittlung haben zahlreiche ungeklärte Wechselwirkungen. Das konnte man auch an der positiv überraschten Reaktion der KünstlerInnen auf das Buch sehen, die eine solche leichte Genauigkeit in der Darstellung der Projekte nicht erwartet hatten und manche zeichnerische Frechheit auch nicht. Trotz der wichtigen Entwicklung in Münster, die einige Maßstäbe zu mehr gleicher Augenhöhe hin verschoben hat, bleibt der Status des Kunstvermittlers als Partner von Künstler und Kurator weithin unterbewertet.
Und was man natürlich bei kaum einem Kunst begleitenden Unternehmen wie diesem einlösen kann: gleichzeitig aktuell und nachhaltig zu sein. Ich bin gespannt, ob sich der Impuls dieses Kinderbuchs noch in irgend einer Form nach zehn Jahren aufspüren lässt, wenn die Leser erwachsener sind.
* Leicht veränderte Wiedergabe des Artikels aus: Kunstvermittlung zwischen Konformität und Widerständigkeit, hg. v. Sabine und Leonie Baumann (=Wolfenbütteler Akademie-Texte Bd. 39, S. 68-72.