Kunstkoffer
– einige Anmerkungen
Kunst
ist eines jener Gebiete, die für viele zeitlebens eine unbewältigte
Aufgabe bleiben. Und sie bleibt im Blick: Immerhin treibt die
Menschheit einigen Aufwand mit der bildenden Kunst, mit Museen,
Akademien und schulischem Kunstunterricht. Diese
Bedeutungsperspektive ist kaum zu übersehen und trotzdem schwer zu
erfassen. Was sich dort an ungehobenen Schätzen der Vergangenheit
verbirgt oder was eine schwer zu überblickende Entwicklung in der
Zukunft noch bereit hält, macht zunächst einmal Eindruck. Dazu
kommt dann noch immer der Umgang mit den eigenen Potentialen für
Kunst, sei es als Betrachter oder Macher. Angesichts dieser
Unübersichtlichkeit entsteht schnell der Wunsch nach einer gut
gepackten Form für das Problem. Und so existieren nicht nur eine
riesige Anzahl von Erklärbüchern (inzwischen ist es wie bei der
Kunst schwer, das zu überblicken), sondern auch anders gefasste
materielle Transportmittel. Koffer beispielsweise.
I.
Marcel
Duchamp war selbst ausgesprochen interessiert an der Rätselhaftigkeit
von Kunst. Da er gleichzeitig schräge Lösungen liebte, schuf er zu
unterschiedlichen Zeiten seines künstlerischen Nachdenkens kompakte
Lösungen hierfür. Die zweite davon ist gleich am berühmtesten
geworden. Die „Schachtel im Koffer“
vereint sorgfältig hergestellte Miniaturen seiner bisherigen Werke.
Seit 1938 und in höherer Auflage produziert, nimmt die
„Bôite-en-valise“ wie ein Musterkoffer oder eine Puppenstube
drei Grundströmungen seiner Kunst auf: das Systematische, das
Spielerische und die Vervielfältigung. Systematisch ist dabei die
einigermaßen vollständige Werkübersicht – und damit auch das
Anliegen, durch die verkleinerte Form quasi einen distanzierten
Überblick zu gewinnen über Zeit und Raum seiner Kunst.
Möglicherweise war es auch eine sehr dreidimensional ausgefallene
Bewerbungsmappe. Als spielerisch entpuppt sich diese Bôite, wenn man
das seltene Privileg hat, selbst die Kiste dem Koffer entnehmen oder
gar die Bestandteile arrangieren zu dürfen. Zumindest lässt sich
das ahnen, wenn man die vielfältigen mehr oder weniger gelungenen
Versionen Revue passieren lässt, in denen die Arbeit schon museal
gezeigt worden sind. Dass es von dieser Kiste etwa 300 Exemplare
gibt, ist eine weitere Betrachtung wert. Natürlich legen die
ausgeklügelten Reproduktionstechniken nahe, von solchen Objekten
gleich mehrere herzustellen. Gleichzeitig hat Duchamp aber auch mit
die Idee geliebäugelt, hoch aufgelegte visuelle Objekte unters Volk
zu bringen. Seine auf einer Erfindermesse vorgestellten Rotoreliefs –
Pappscheiben mit vergleichsweise schrillen optischen Effekten zum
Auflegen auf Plattenspieler – waren aber 1935 wohl noch zu viel
Zukunftsmusik.
Dass
aber gerade einer der besonders rätselhaften Künstler des 20.
Jahrhunderts die Form eines Koffers nutzte, war für die Kunst und
vor allem für die Kunstpädagogik nicht ohne Folgen.
II.
Mit
einem Koffer in der Hand stattete in den 1980er Jahren Lili Fischer
Hausbesuche ab.
Der alte Reisekoffer enthielt verschiedene vernutzte oder gemeinhin
als arm empfundene Materialien. Wie bei einem Vertreterbesuch lief
das ab: sie entpackte ihre Waren und versuchte den Besuchten die
besonderen Vorzüge von Staubflocken, Putzlappen oder Bürsten
nahezubringen. Gerade Bürsten waren übrigens neben Schnürsenkeln
ein häufiger Artikel bei Besuchen von kommerziellen Vertretern. Lili
Fischer ging es jedoch weniger um eine genauere Betrachtung des
Nutzwertes einer Haushaltsbürste, sondern auch um die gerade in
gebrauchten Gegenständen gespeicherte Geschichte, letztlich um so
etwas wie ein – zumindest vorstellbares – Seelenleben dieser
Werkzeuge. Natürlich wollte sie so den Austausch von Ideen und
Empfindungen ausbauen. Sie tauschte aber auch real: eigene ältere
Bürsten gegen fremde ältere Bürsten, jeweils mit all dem, was
diesen Gegenständen über ihren bloßen Nutzwert hinaus anhaftete.
Der Koffer bildete dann das leichte Gepäck der Künstlerin, das sich
von Besuch zu Besuch änderte und anreicherte. Im Übrigen erschien
auch hier eine abgespeckte Fassung des Koffers als Edition.
III.
Als
ich anfangs der 1990er Jahre erstmals selbst mit einem Kunstkoffer
arbeiten sollte, merkte ich, dass das auch schweres Gepäck sein
kann. Über einige Jahre und mit großem Engagement hatte ein im
Bonner Kunstverein angesiedelter kunstpädagogischer Arbeitskreis
dieses didaktische Hilfsmittel konzipiert, materialisiert und zudem
mit umfangreichen gedruckten Hinweisen an die Vermittelnden
ausgestattet. Dass er darin älteren ähnlichen Modellen folgte, ist
zu vermuten; jedenfalls existierte er seit 1984.
In einer hölzernen Hülle, der man eine einigermaßen professionelle
Herkunft ansah und die mittels Koffertragegriff zu bewegen war,
befand sich ein ausgewachsenes Arsenal an Hilfsmitteln.
Kleine
Pflastersteine aus Granit waren wohl ein entscheidender Faktor für
das Gewicht – immerhin ging es auch um Ulrich Rückriem. Eine
Druckgrafik von Tomas Schmit befand sich unter einem Innendeckel aus
Plexiglas. Ein großes Tuch aus Nessel, sorgfältig am Rand umgenäht,
war Franz Erhard Walther nachgebaut. Videobänder von den legendären
Sendungen der Fernsehgalerie Gerry Schum (deren Ausleihe sonst
öffentlich kaum möglich war) gehörten zum Inventar und markierten
wie das gesamte Konvolut einen beachtenswerten Anspruch. Da der
Kunstverein anfangs über keine eigene Sammlung verfügte, zielte
dieses Material hauptsächlich auf die Vermittlung der im Kunstmuseum
befindlichen Arbeiten. Räumlich lag man allerdings irgendwann weit
auseinander, und so wurde der Koffer samt Begleitmaterialien nicht
allzu häufig genutzt. Zu den kunsthistorischen Referaten allerdings
kam doch mitunter etwas zum Einsatz – als pädagogische Folie
sozusagen. Das große Tuch beispielsweise diente zunächst als
gemeinsame Sitzfläche auf dem Boden und anschließend – nachdem
wir die Teilnehmer zu eigenen Nutzungsideen gefragt hatten –
unerwartet als Sprungtuch für die Referentin. Diese Episode hat mir
schlaglichtartig gezeigt, was im ansonsten eher
wissenschaftlich-trockenen Vermittlungsalltag der Seminare fehlt.
Aber kann/soll man für jedes Seminar einen Koffer haben?
IV.
Heute
existiert eine Vielzahl von Kunstkoffern, die in den verschiedenen
Museen und bei freien Initiativen zum Einsatz kommen. Sehr häufig
geht es um Material und die Sensibilisierung dafür, um die Chancen
und Tücken des je eigenen Sehens sowie natürlich auch um
Aura-Fragen. Und da stellt sich eine Vielzahl von Fragen. Natürlich
ist das jeweilige Material ein wichtiger Faktor von Kunstwerken.
Zahlreiche Papiersorten oder Marmorarten prägen die Zeichnung oder
Skulptur ganz entscheidend. Eine intensive Beschäftigung lässt dann
künstlerische Entscheidungen nachvollziehen, die ohne diese
Materialkenntnis kaum einleuchten. Und natürlich haften am Material
besondere haptische Eigenschaften, die man möglicherweise beim Sehen
ahnen, beim Tasten aber spüren kann. Oft ist es daher mittlerweile
so, dass kleine Materialproben zum Mitnehmen verteilt werden, die
zumindest diesen Zugang auch noch später lebendig halten können.
Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob dieses Erlebnis
jetzt einmalig und ortsgebunden sein soll oder ob man die Tugenden
des Giveaways nutzen will, als nachhaltige Erinnerungsstütze
potentiell immer und überall wirksam zu sein. Immerhin sagte Joseph
Beuys über seine Editionen, dass sie ihre Besitzer wie über
Antennen mit ihm verbinden.
V.
Wenn
bei Duchamp ein wesentliches Element des Koffers auch seine
Eigenschaft als systematischer Behälter war, dann gilt das für
heutige Museumskoffer oft in abgewandelter Form auch. Als
pädagogisches Vehikel zeigt er, dass die jeweilige museale
Vermittlung eine gleichzeitig flexible wie umfassende Kompetenz des
Museumsteams voraussetzen kann. An dieser Stelle ist die äußere
Optik dieser Koffer ein interessantes typologisches Moment: eher in
Würde (und funktionsgerecht) verschlissen wie ein alter lederner
Arztkoffer, eher aus strahlungsarmem Kunststoff wie ein regelmäßig
erneuerter Werkzeugkasten aus dem Baumarkt oder eher ein Designobjekt
für sich, das nach außen bereits seine konzeptuelle Potenz
signalisiert?
Ein
zweites Element kann hier sein, was der innere Aufbau signalisiert.
Den Bonner Kunstkoffer nach Gebrauch wieder einzuräumen war nicht
immer einfach. Nach praktischen, aber auch systematischen
Gesichtspunkten geordnet, forderte er von Benutzer eine gewisse
gedankliche Disziplin. Und man lernt die innere Logik dieses
pädagogischen Hilfsmittels notgedrungen genau kennen. Duchamps spätere weiße
Box übrigens trieb dieses Moment auf die Spitze: mit Stecknadeln
zusammen gehalten, bietet das Konvolut aus sorgsam aufgespießten
Notizzetteln einen undurchdringlichen Zusammenhang. Wer die
Stecknadeln löst, wird einzelne Notizen lesen können, aber das
eigentümliche Geflecht aus Zetteln kaum mehr in den Originalzustand
zurück versetzen können.
VI.
Das
Spiel als drittes hier ins Feld geführte Element ist ein wohl
notwendiges Korrektiv zu dieser systematischen Seite. Die
Würfelpuzzles aus meiner Kindheit waren dazu angelegt, aus
Holzwürfeln mit Bildteilen auf den Flächen ein Gesamtbild
herzustellen und im zugehörigen Koffer zu sichern. Aber immerhin gab
es – neben dem ja immer möglichen Chaos - sechs verschiedene
Lösungen: Tierbilder, wenn ich mich recht erinnere, die als
Gesamtgedanke einen Bauernhof ergaben. Noch heute haben viele dieser
Würfelpuzzles die Form eines Koffers oder zumindest den typischen
Koffergriff. Anscheinend lieben Kinder praktische Dinge.
Das
Chaos aus den unterschiedlichsten Materialien und Spielfiguren im
Koffer einer Psychologin hatte ein anderes System: als Klient ihrer
Beratung sollte ich ein räumliches Bild erstellen, das dann ein
Gespräch über meine berufliche Situation ermöglichte. Die Elemente
übernahmen in der Interpretation Rollen, fast wie in einem Theater.
Am Ende schüttete man das alles wieder in den Koffer, wodurch sich
die Bedeutung der ehedem wichtigen Elemente wieder verschob. Als
berufsmäßigem Interpreten von Bildern war mir das fast schon
unheimlich.
Zum
Abschied nach drei Jahren Lehre im Fachgebiet
Kunsterziehung/Kunstpädagogik an der Hochschule für Kunst Burg
Giebichenstein bekam ich einen Koffer mit verschiedenen Kunstwerken
Studierender und Lehrender geschenkt. Neben den erinnernden Anklängen an den
musikalisch einschlägigen „Koffer in Berlin“ macht ein Koffer
als dynamischer Behälter für einen Wegreisenden ja auch praktisch
Sinn. Daneben aber schreibt er sich als kleines Museum im Koffer in
die Typologie des Museums in der Schachtel
ein. Und nicht zuletzt ist er ein Kunstkoffer und enthält implizit
eine Aufforderung: Grund genug, sich mit Koffer und Inhalt weiter zu
beschäftigen ...