Johannes Stahl

Kunst als Lehen
Zum Verhältnis von Kunst und Verleih

Die Zeit, um ein Kunstwerk wahrzunehmen
Ein Kunstwerk ist für den Wahrnehmenden immer ein Besucher auf Zeit - egal ob man es besitzt oder nicht. Bildende Künstler haben an dieser Vorgabe immer wieder angesetzt. Eine Gattung wie das Stilleben kultiviert diese Bindung an die Zeit sogar mit ihrer Thematik und Wirkungsweise. Das in seiner Substanz auf Dauer angelegte Ölbild setzt sich in eine eigenartige Wechselbeziehung zum Betrachter. Allerlei Attribute wie Uhren oder Obst mit daran nagenden Insekten erinnern ihn an seine verrinnende Lebenszeit. Der verführerische Realitätsgrad der Darstellung, aber auch das sorgfältig inszenierte Arrangement steht jedoch in eigenartigem Kontrast zur Flüchtigkeit, mit dem ein Betrachter das Bild wahrnimmt und seine Eindrücke wirken läßt.
Die Schokoladenseiten der Anschauung beschleunigen den Blick - siehe die Ästhetik der Werbebilder. Eindrücke, Erlebnisse und Überlegungen, wie sie eine inzwischen weitgestreute Literatur über die Gattung Stilleben zusammengetragen hat, kommen andererseits nur durch langsame, nachhaltige und wiederholte Betrachtung zustande.

Schnellere Bilder
Die Entwicklung der Reproduktionsmöglichkeiten von Bildern hat diese Grundlagen der Wahrnehmung verändert. Filme beispielsweise nutzen die Flüchtigkeit von Bildern und setzen voraus, daß der Zuschauer nicht genügend Zeit hat, um so genau hinzusehen, daß er Filmkulissen als Pappfassaden erkennt. Dafür kann ein Betrachter bewegter Bilder Zeitabläufe miterleben. Diese Möglichkeit kommt der alltäglichen Wahrnehmungsweise ungleich näher als die eher statische Realität eines Stillebens. Für die Betrachtung eines Werkes bildender Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts haben diese Entwicklungen Konsequenzen: die Materialität, aber auch die Spiritualität sind wichtige Kategorien geworden - gleichgültig, ob es um die Wertschätzung handwerklich-materieller Bildkunst geht oder um die geistige Intensität eines Werks, die sich ändern kann wie ein Roman auf dem Weg zu seiner Verfilmung.
Die inzwischen am meisten gesehenen Bilder, nämlich die des Fernsehens, verbindet außer der Ähnlichkeit der verwendeten Technik nach wie vor kaum etwas mit der bildenden Kunst.1 Pioniere einer Annäherung wie Gerry Schum, der eine Fernsehgalerie initiierte2, darin aber keine Nachfolge fand, sowie die weltumspannenden Satelliten-Projekte von Nam June Paik haben zwar die Möglichkeiten angedeutet, aber keine bleibenden Strukturen geschaffen. Die eher auf Konsum ausgerichtete Erwartung der Zuschauer gegenüber dem Fernsehen verhindert die notwendige größere Aktivität beim Wahrnehmen anspruchsvollerer Emissionen. Dieses Problem stellt sich nicht nur für die Videokunst, sondern auch den mit besonderen Bildungsaufgaben versehenen dritten Programmen der öffentlich rechtlichen Sender oder dem deutsch-französischen Kulturkanal "arte".
Im Kunstverleih bietet sich die Möglichkeit geradezu an, in Form von verleihbaren Kunstvideos ein genau dosiertes Erlebnis von Kunst im Fernsehsessel zu sich zu nehmen. Schließlich erfreuen sich Videotheken eines so großen Zulaufs, daß auch ein Videokünstler wie Marcel Odenbach sich in seiner Installation "Videothek"3 mit dem Phänomen beschäftigte. Seine Bänder zeigte er wie in einer Videothek auf einzelnen Monitoren und stellte sie jeweils einer Sitzgelegenheit gegenüber. Vor allem aber bot er Kopien dieser Bänder im Rahmen dieser Ausstellung Subskribenten zu Billigstpreisen an.

Die Wandschmuckdebatte
In der Diskussion um das Ausleihen von Kunst taucht unweigerlich der Begriff Wandschmuck auf. Auch wenn er von den meisten Künstlern und Vermittlern kaum ernst genommen, geschweige denn diskutiert wird, prägt die Rolle als Wandschmuck schon seit langem viele Kunstauffassungen. Kunst und ihre gesellschaftliche Rolle nährt sich traditionellerweise zu einem guten Teil daraus, Bilder in menschlichen Behausungen zu beherbergen, seit es Höhlenzeichnungen gibt. Dadurch wird sie immer auch funktionalisiert - als Andachtsbild in Kirchen, Erinnerungshilfe in Ahnengalerien, als repräsentativer Reichtum, der sich in Bilderkabinetten jeglicher Art ausbreitet oder oft nicht minder repräsentative Askese immaterieller Konzeptionen. Eine schmückende Komponente - egal in welchem Ästhetisierungsgrad sie nun gerade anzutreffen ist - gehört zur Kunst.
Nahezu ebenso traditionell wie diese Tatsache ist der Vorwurf, die Kunst verlöre dadurch Substanz. Diese Diskussion hat bis heute notwendigerweise einen offenen Ausgang, denn ein Ergebnis muß sich jedesmal neu bestimmen lassen - durch die Werke selbst und die jeweilige Auffassung vom künstlerischen Arbeiten. Das Spektrum reicht von einem rein geschäftlichen Kunstbegriff, wie sie die erfolgreiche Öldruckproduktion der Frankfurter Bilderfabrik May markiert4, bis zum Künstler, der eine Arbeit nur für sich schafft und sie niemandem zeigt - wie zum Beispiel Marcel Duchamp, der sein Hauptwerk Etant donnees..." erst nach Erscheinen des "kompletten Werkverzeichnisses" seinem Galeristen offenbarte und diesen damit in erhebliche redaktionelle Turbulenzen stürzte5.
"Wunschbilder", ein Projekt von Manfred Boecker und Wolfgang Niedecken aus dem Jahr 1974 nimmt innerhalb dieses Spektrums eine doppelbödige Position ein Die Künstler fragten nach dem, was nicht mit Kunstkenntnis vorbelastete Menschen gerne gemalt bekommen hätten, und führten diese Aufträge - dazu gehörten Porträts, Seelandschaften, Stilleben, aber auch erotische Motive - im Sinne der Auftraggeber aus. Gleichzeitig vollzogen sie damit eine der für die 70er Jahre spezifischen Feldforschungen, bei deren konzeptioneller Vorarbeit die Frage nach dem Sinn der Kunst am Anfang stand.6
Wie auch immer man zu einer solchen Umgangsweise mit dem Begriff Kunst und mit den Bildvorstellungen des Publikums stehen mag. eines wird durch diese Aktion offensichtlich: ob Kunst mehr schmückende oder eher theoretische Funktion haben soll und wie stimmig das Werk mit seinem Ort in Zusammenhang steht, darüber entscheidet der jeweilige Umgang mit Kunst.

Das Wohnumfeld des Künstlers
Künstler haben gute Gründe, ihr Augenmerk auf den Wohnraum zu richten. Einerseits müssen sie wie jeder selbst irgendwo und irgendwie wohnen; andererseits bezieht ihr bildnerisches Denken neben der eigenen Wohnung oft auch den Ort ein, wo verkaufte Arbeiten enden - und das sind unter anderem auch die privaten Räume der Sammler. Der Umgang mit alltäglichen Gegenständen der Wohnung ließ ganze Gattungen entstehen: das Stilleben, das Fensterbild, das Genre, aber auch die konzeptuellere Beschäftigung mit Tisch und Stuhl, Waschbecken und Wohnungsausstattung. Daß solche Elemente Bestandteile von Bedeutungsgefügen sind, sei hier nur angedeutet.
Einer der Pioniere des Kunstverleihs in Deutschland, der Maler Arthur Segal, hat ein bedrohlich stimmendes Bild von Wohn- und Produktionsbedingungen der Künstler gegeben. In "Künstlers Erdenwallen" entwirft er einen moritatenhaften Bilderreigen, in welchem sich der Künstler bettelarm zu seinen Bildern durcharbeitet. Von Juries negiert, und Kunsthändlern abgewiesen nimmt er sich schließlich jung das Leben - um erst anschließend berühmt und teuer zu werden.
Die Tatsache, daß heute wie damals Künstler nur in wenigen Ausnahmefällen von ihrer Kunst leben können, ist in der Regel nicht sehr bekannt. Das hat unter anderem mit der Darstellung ihres Lebensumfelds zu tun. Ein typisiertes Bild des Künstlerlebens kommt oberflächlichen Sichtweisen entgegen und fordert Kompensation und die in diesem Zusammenhang schnell entstehenden Verschwörungstheorien geradezu heraus. So arm ein Künstlerleben für den Normalverbraucher auch sein mag, er kann gewiß sein, bestimmte Dinge nicht erreichen zu können: Genialisches (den Künstler küßt in seinem Atelier die Muse), größere Freizügigkeit (zahlreiche wunderschöne Aktmodelle), gesellschaftliche Mobilität (Könige und Präsidenten kommen zu Besuch) und anderes mehr. Ein seiner Rolle sehr bewußter Künstler wie Pablo Picasso hat sowohl in seinen bettelarmen Anfängen im Pariser Montmartre als auch als residierender Malerfürst in seinen Schlössern an der Cote d'Azur genau diese Erwartungen bedient7.
Dieser Mythos vom Künstler lebt heute fort, denn die gesellschaftlichen Umstände haben sich nicht wesentlich verändert. Zimmergalerien wie die von Timm Ulrichs8 bilden ein erweitertes Experimentierfeld für neue Konzeptionen von Kunst oder einen konspirativen Treffpunkt für alle, die aus unterschiedlichen Gründen keine regulären Ausstellungsmöglichkeiten haben.
Im Gegenzug kann natürlich der Ausstellungsraum als existenzieller Lebensraum besetzt werden, als inszenierte Schnittstelle zwischen dem privaten Wohnen und dem öffentlichen Zeigen. Die Aktion "Aliez! Arrest" der Dresdner Auto-Perforationsartisten in der Leipziger Galerie EIGEN + ART 1988 bot diese Verbindung folgendermaßen an:9
ZUM TAUSCH: (u.a.) künstlerische erzeugnisse aus der laufenden Produktion
-Wertpapiere mit original-text mit original-zeichnung mit original-signet
-blätter und postkarten
-kleinplastik und andenken
-etc.
entgegengenommen werden im direkttausch oder auf postalischem wege:
-nahrungs- und GENUSSmittel (wegzehrung)
-PROTEKTION (hohe kante)
-dienstleistungen auf kommunikativem sektor (TROST)
wir frühstücken noch hier/ wir leben, wenn SIE - so - wollen micha brendel/else gabriel/rainer görß (...) "NACH BEUYS"

Die Wohnung der anderen
Unter einem Leitbild, das Städteplaner "Wohnumfeldverbesserung" nennen würden, wollten vor allem sozial gesinnte Künstler seit Werkbund und Bauhaus dem privaten Wohnraum auf breiter Basis jene Verbesserungen verschaffen, die eine durch Geld und Bildung klassifizierte Gesellschaft eben nicht für jedermann bereithält. Die auf die Bedürfnisse der modernen arbeitenden Hausfrau zugeschnittene "Frankfurter Küche", die Kunstdruckproduktionen der sechziger Jahre oder die Allgegenwart des Designs in postmodernen Entwürfen - zahllose Konzeptionen versuchten sich nützlich zu machen und mitunter gelang es.
Andererseits bildete das allzu bürgerliche Umfeld der Privatwohnung stets ein willkommenes Feindbild für Kunstrichtungen von Dada über den Surrealismus und die Pop Art bis zu den kritischen Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte. Gerade im Bereich der Wohnung kam man auf jene gestalterischen Verkrustungen zu sprechen, die als Indiz für gedankliche Trägheit oder gar reaktionäre Haltungen wirken konnten. Kleinbürgerlicher Mief, mit dem Loriots unsterblicher "Vertreterbesuch" nachhaltig aufräumt, unsinnig genutzter Reichtum und das traurige Ausbleiben jeglicher Veränderung über Jahrzehnte hin sind Ansatzpunkte künstlerischer Kritik am bürgerlichen Wohnen. Vor allem aber die Perspektivlosigkeit, die eine ausschließlich materielle Ausrichtung der privaten Lebensumwelt offenbart, ist ein Kernpunkt künstlerischer Kritik.
Künstler würden ihrer Rolle nicht gerecht, wenn sie nicht - zumindest andeutungsweise - positive Gegenentwürfe liefern würden. Zahlreiche Ansätze sensibilisieren für Aspekte des Wohn- und Lebensumfelds, die bislang nicht wahrgenommen wurden. Hinter der Auseinandersetzung mit seinen Lebensumständen meinen sie den Menschen - liefern aber keinen umfassenden Entwurf, der als humanistisches Ideal schlechthin handhabbar wäre.

Denkräume, Psyche-Kammern, Erfahrungsräume, konspirative Orte, zwischenmenschliches Experimentierfeld, Wohnraumreserve: einige Aspekte künstlerischer Auseinandersetzungen mit Wohn- und Arbeitsraum
Wenn im Folgenden Positionen von Künstlern vorgestellt werden, die dem privaten Raum besonderes Gewicht geben, so ist dies keine repräsentative Auswahl nach festliegenden Kriterien. Vielmehr geht es darum, die Vielschichtigkeit und Variationsbreite dieser künstlerischen Interventionen hervorzuheben. Insgesamt wären diese Ansätze so zahlreich, daß sie eine andere Betrachtungsweise nötig machen würden. Es mag jedoch im vorgesehenen Rahmen sinnvoll erscheinen, die Beispiele größtenteils aus einer Sammlung von solchen Kunstwerken zu geben, die auch verliehen werden - und damit in jenem Bereich wirken, aus dem sie wichtige Impulse erhalten haben.
Anna und Bernhard Blume sind auf das Thema ihres privaten Wohnens immer wieder zurückgekommen. Ihre Fotoarbeiten setzen ein kleinbürgerliches Wohnumfeld als Hintergrund für Vorgänge an, die Ungeahntes sichtbar machen. Fliegende Vasen, schräg im Raum stehende Möbel sowie das schwebende oder stürzende Ehepaar selbst sind das Inventar für einen Entwurf, der hinter der Fassade normaler Wohngewohnheiten an Kant geschulte metaphysische Überlegungen thematisiert: "... so schauen eben jetzt die synthetischen Sätze a priori als synthetische Möbel im Hier und Heute aus"10. Als philosophischer Text bilden Bernhard Blumes Überlegungen neben den gemeinsam konzipierten und von Anna Blume gestalteten Fotoarbeiten ein eigenes Medium.
Diese Ebene verbindet sich in den Arbeiten mit psychologisch-zwischenmenschlichen Themenstellungen. Vasen und andere Behältnisse haben in einer an Signum Freud geschulten Bedeutungslehre ihren Platz als sexuelle Symbole, das Zusammenleben und -arbeiten eines Künstlerpaars, die sorgfältig hergestellten chaotischen Mirakel sowie der inszenatorische Bildwitz der Blumes mischt sich zu einer hinterhältig-überzeugenden Verbindung, die Miteinanderleben, -wohnen und -denken gleichermaßen meint.
Kunst hat seit den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht nur als Objekt in den dafür vorgesehenen Nischen der Wohnung ihren Platz, sondern mischt sich zunehmend in weitere Räume ein. Projekte wie Lili Fischers "Hausbesuche"11 nehmen den Haushalt als Ausgangspunkt künstlerischer Überlegungen. Ein "seufzender Wäschepuff", ein "Putzlappenordner" oder eine "Begleitrolle für Wasserhahn" verwandeln die private Wohnsphäre in ein Flechtwerk aus Gestaltungen, Gewohnheiten und Gedanken. Jedes Ding, aus dem ein Haushalt besteht, kann die Grundlage für ein Objekt sein, das seinerseits mit Zeichnungen vorbereitet und reflektiert wird und in einer Aktion seinen Platz findet.
Was Lili Fischer "Künstlerische Hausbesuche" nennt, kann man wörtlich nehmen. Sie hat zahlreiche Wohnungen besucht und für Aktionen genutzt, die meist spielerisch an die Gewohnheiten der Bewohner anknüpfen. Durch Wiederholungen verändert sich der Verlauf solcher Besuche - und bestimmte Arbeiten oder zumindest deren Ausprägungen entstehen überhaupt erst durch die Teilnehmer und ihre Reaktionen. Dadurch ergibt sich eine kommunikative Komponente, die ebenso wie die "Feldforschung", eine zunächst soziologische Untersuchungsmethode, Lili Fischers Vorgehensweise prägt, aber auch die ausgetretenen Pfade künstlerischer Strategien um einen direkt am Leben orientierten Impuls erweitert.
Private Wohnräume sind immer auch Orte, in deren Erscheinungsbild sich die dort lebende Person besonders deutlich zeigt. Eine Vielfalt von persönlichen Gedenkhäusern trägt dem Interesse an solchen Wohnsituationen Rechnung, und sie bieten zahlreichen Künstlern Vorgaben für eine Arbeit an der Grenze von historischer Aufarbeitung und persönlich geprägten Ansätzen. Im Falle des Wiener Denkers Ludwig von Wittgenstein haben sich dessen Überlegungen zu einer eigenwillig-kargen Architektur gefügt. Die Vorgaben des Wittgenstein-Hauses haben Künstler wie den Düsseldorfer Mischa Kuball zu einer Reaktion mit ihrer eigenen Arbeit herausgefordert. Er setzte seine Installationen in eine Wechselbeziehung mit architektonischen Elementen Tür, Fenster und Raum. In der Wohnung ergab sich eine Auseinandersetzung, die gleichermaßen aus gestalterischen wie gedanklichen Wechselwirkungen entstand.12
Cornelia Schleime konterkariert den Überwachungsstaat der DDR, der Gegnern keine Privatsphäre mehr einräumte, mit einer Arbeit, die sowohl den privaten Raum als auch seinen Zusammenhang mit dem politischen Umfeld zum Thema hat. "Bis auf weitere gute Zusammenarbeit..." heißt ihr Zyklus, dem Kopien der eigenen Stasi-Unterlagen zugrunde liegen. Sie vergrößert diese vielfach amtlich bearbeiteten Papiere im Siebdruck und gesellt zu den deutlich reduzierten und in verschraubtem Amtsdeutsch wiedergegebenen Wahrnehmungen der Spitzel ein Foto, das mit der Unschärfe von privaten Knipsbildern und einer ironisch übertriebenen Himmelbettszene die amtlich geheimen Beobachtungen auf spielerische Weise Lügen strafen.
Mit seinem Projekt "provisional" arbeitet Felix Stephan Huber an bekannten Problemen und benutzt dafür neue Medien. Nachdem seine Installationen in Ausstellungshäusern Großfotos von Wohnräumen mit auf dem Boden markierten Liegeflächen zusammengebracht hatten, ließ er ein Computerprogramm entwickeln, das es jedem ermöglicht, eine Höchstzahl an Liegeplätzen für seine privaten Räume auszurechnen. Den Planungszustand der Wohnung vor und nach der Maßnahme kann man ausdrucken und soll ihn in den entsprechenden Zimmern anbringen. "Es ist also so, als hätte ich in dem jeweiligen Raum selbst eine Installation gemacht"13.
Der gesamte Prozeß ist eingebunden in einen Kommunikationsvorgang mit dem Künstler. Felix Stephan Huber sammelt die durch sein Programm zustande gekommenen Umgestaltungspläne für eine Publikation - und übt eine gewisse Kontrolle über den Weg aus, den seine Konzeption in der Anwendung zurücklegt - neben dem Blick in sehr viele Wohnungen. Eine eigentümliche Strategie kommt mit ins Spiel: Ähnliche Programme werden von Wohnraumsanierern verwendet, um eine maximale Ausnutzung von Häusern beim Umbau zu erzielen, und solche Maßnahmen bergen oft genug sozialen Sprengstoff. Andererseits kennt gerade die jüngere deutsche Geschichte verschiedene Situationen, in denen Notbetten in nicht dafür vorgesehenen Räumen unterzukommen hatten. Das Programm selbst ist für jeden frei kopierbar und bietet daher auch durchaus die Möglichkeit zur anderen Verwendung. Huber läßt damit der Arbeit zahlreiche Wege offen, die nicht notwendigerweise im Bereich der Bildenden Kunst enden: möglicherweise wird es ja auch eine erfolgreiche Bereicherung des unter Kennern kursierenden Spektrums an Computerspielen...

Kunst als Lehen Wie sollte Kunst sein? Was kann Kunst bewirken?
1959 gab der Franzose Yves Klein Schecks aus: "20 Gramm Feingold erhalten für eine Zone der Immateriellen malerischen Sensibilität". Was man damit erwarb, brachte - außer der Aktie - keine weiteren materiellen Werte ein. Dem Empfänger bestätigte der Scheck die Teilnahme an einem künstlerischen Prozeß, der gerade diese Diskrepanz von Haben und Sein zum Thema machte. Der Scheck vermerkte aber auch, daß sich der Überträger durch diesen Prozeß dem totalen Ausverkauf seiner eigenen Sensibilität preisgab. Eine Steigerung war noch möglich, wenn sich der Aktieninhaber .bereit erklärte, seine Aktie zu verbrennen und die Asche in die Winde zu zerstreuen. Als Gegenleistung bot Klein die Hälfte seines Goldwertes an und warf unter Zeugen das Stück in die Seine14.
Neben dem kunstgeschichtlich folgenreichen Aspekt der Immaterialität betont die Aktion eine interaktive Komponente. Der Transfer kann nur dann stattfinden, wenn der Teilnehmer wirklich auch mit von der Partie ist und zugunsten immaterieller Werte auf materielle Werte verzichtet. Selbst den Ruhm, bei einer solchen Aktion dabeigewesen zu sein, kann der Künstler nicht als Wert versprechen, aber der Teilnehmer besitzt exklusiv ein Stück Sensibilität - und damit etwas, was längst nicht jedem Sammler zukommt, sei er mit noch so wichtigen Kunstwerken ausgestattet.
Yves Kleins Aktion, der viele ähnlich angesetzte Konzeptionen folgten, propagiert die Teilnahme an bildender Kunst als Prinzip. Nur wer dem Künstler auch auf ungewohntes Terrain folgt, kann von dessen Tätigkeit auch wirklich etwas profitieren. Kunst und die Teilnahme daran gesteht er nur demjenigen zu, der sich auf einen offenen Prozeß einläßt, dessen Ausgang ungewiß ist und auch nicht automatisch mit materiellem Zuwachs, Erfahrungsgewinn oder moralischer Läuterung belohnt wird.
Im Zusammenhang des Kunstverleihs bekommt eine solche Konzeption von Kunst eine eigene Dynamik. Kleins Aktion erinnert an ein lehensähnliches Vertragsverhältnis, das neben den rein rechnerischen Ziffern eine geistige Komponente enthält - die Vereinbarung enthält neben der Miete auch Aufgaben an Kopf und Herz15.

Einige Schlußfolgerungen für den Kunstverleih
Im Gegensatz zu dem Verleih von Autos oder anderen Gebrauchsgütern ist der Verleih eines Bildes vor allem dann erfolgreich, wenn der Benutzer etwas mit einer künstlerischen Arbeit erlebt, was er als Eindruck, Erfahrung oder Erkenntnis auch durchaus über die Nutzungsdauer hinaus behält. Der Verleih von Kunst stellt vergleichsweise wenig materielle Anforderungen, sondern eher geistige Bereicherungen in den Mittelpunkt. Künstlerische Ausdrucksweisen halten seit langem an ihrer eigenen Funktionsweise fest und scheinen sich gerne an Kategorien wie Erwerb und Besitz zu binden. Daß bildende Kunst ohne Besitzverhältnisse Fragen aufwirft, wird gerade erst wahrgenommen - während man im Bereich der Musik zunächst viel freier mit Produkten künstlerischer Arbeit umging und erst in unserem Jahrhundert einen Eigentumsschutz aufgebaut hat. Elemente wie das Temporäre von vergänglicher Kunst oder das Immaterielle von Aktionen und Konzeptionen bilden eine Folie von Gedanken, auf der das Verleihen von Kunst neu überlegt werden könnte und von denen durchaus noch Impulse für den Kunstverleih zu erwarten sind.
Damit hängt einiges von den Instituten ab, die Kunst verleihen. Artotheken und Graphotheken haben Nachbarn, mit denen der Austausch sinnvoll, wenn nicht gar lebensnotwendig ist: Galerien und Museen, Kunsthallen und Kulturämter stehen vor ähnlichen Aufgaben, wenn es gilt, zeitgenössische Kunst zu vermitteln. Ein Vergleich mit ihrer Arbeitsweise bietet dem Kunstverleih beste Gelegenheiten zur Bestimmung der eigenen Position.
Bibliotheken bringen weitere Erfahrungen mit sich. Eine Rückmeldung auf das Angebotene, die Verankerung in einer breiteren Öffentlichkeit mit all den Widersprüchen, die Anspruch und Angesprochene haben können sowie eine immer wieder zu kurz geratende Brücke zwischen verschiedenen Bereichen künstlerischen Arbeitens wie der literarischen Produktion, musikalischen Sektoren und der bildenden Kunst sind wertvolle Impulse aus dieser Nachbarschaft.
Den spezifischen Impuls, den eine Bücherei im kulturellen Spektrum einer Stadt setzt, greifen auch bildende Künstler gerne auf. Im Vortragsraum der Bibliothek haben zwei Mitglieder der in Stuttgart ansässigen Künstlergruppe ABR eine quasi archäologische Aufbereitung ihrer Arbeitsmittel inszeniert: Erinnerungsstücke einer gemeinsamen Biographie ebenso wie Bestandteile einer großen Sammlung an Musterwalzen mit Ornamenten für die Wandgestaltung. Einerseits ist es ein Arbeitsprinzip dieser zwischen Innenraum-Architektur, Philosophie und Bildender Kunst angesiedelten Künstler, ihre Gestaltungen stets in der Anwendung auf bestimmte Räume sichtbar werden zu lassen - so zum Beispiel in einem eigens gestalteten Zimmer im Hotel Teufelshof in Basel, in der Bar des Stuttgarter Künstlerhauses oder im Wartezimmer einer Anwaltskanzlei. Andererseits dokumentieren und publizieren sie ihre Interventionen in klassischen künstlerischen Ausdrucksformen: dem Buch oder dem - im übrigen jedesmal sehr präzise als Siebdruck ausformulierten - Künstlerplakat. Die zunächst vielleicht verstiegen wirkende Vitrinengestaltung offenbart eine Anbindung, welche die Gruppe der Institution "Bücherei" anbieten: sie ist die reale Gestaltung eine Orts und greift ineinander mit einer Ausstellung jener Plakate, mit denen ABR bislang jede ihrer Aktionen begleitete und endet in einer Buchpublikation und einem neuen Plakat.
Für eine Graphothek im Rahmen einer Stadtbücherei entworfen, wirkt diese in den Bilderverleih gebrachte Plakat zurück auf die alltägliche Wohn- und Lebensumgebung der Entleiher. In einem solchen Vorgang wird eine große Nähe, jedoch auch ein Unterschied deutlich zum Bildungsauftrag, der auf der "Nachlese" von Wissen fußt: was sich nicht ohne triftigen Grund "bildende Kunst" nennt, verlangt nach Offenheit, Zeit und großem Engagement - von demjenigen, der ein solches Werk auf Zeit entleiht ebenso wie vom Vermittler.

1 Die wichtigsten Positionen seither führt zusammen: The Arts for Television. Ausstellungskatalog Los Angeles/Amsterdam, hg. v. Kathy Rae Huffman und Dorine Mignot, 1987.

2 Dorine Mignot: Gerry Schum - een pionier. In: gerry schum. Ausstellungskatalog Stedelijk Museum Amsterdam 1979, S.2-11.

3 Erstmals gezeigt 1991 in der Galerie Buchholz, Köln.

4 Brückner, Wolfgang: Elfenreigen Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880-1940. Köln 1974.

5 Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Köln 1992, S. 164.

6 Manfred Boecker/WoIfgang Niedecken: Was ist Kunst". In: Kunstforum Bd.27; 3/78, S.61.

7 Vgl.: Brassai: Gespräche mit Picasso. Reinbek bei Hamburg 1985. Brassai zeigt neben eingehenden Beschreibungen auch Fotomaterial. Zu überlegen wäre in diesem Zusammenhang, ob nicht Goethes beide Weimarer Domizile, das residenziell hergerichtete Haus am Frauenmarkt sowie das nicht minder berühmte und vor allem wegen seiner Schlichtheit zur Goethezeit stark diskutierte Gartenhäuschen eine vergleichbare Verbindung zweier künstlerischer Lebensentwürfe markieren.

8 Siehe die Auflistung von Helmut R. Leppien in: Timm Ulrichs. Totalkunst. Ausstellungskatalog Lüdenscheid (Stadt. Galerie) 1980, S. 32-33.

9 Frank Eckart/Uta Grundmann/Gerd Harry Lybke (Hrg.): EIGEN + ART 1983 - 1991. Eine Dokumentation. Bd. l: Ansichten über einen Raum l., S.47. Über einen geradezu dialektischen Zusammenhang mit Joseph Beuys' Aktion "l like America and America likes me" (Galerie Rene Block, New York 1974) steht eine Studie noch aus.

10 Peter Weibel: Das Ich und die Dinge. Kommentare zu einem philosophischen Text von Anna und Bernhard Blume in Form inszenierter Fotografien. Frankfurt/M. (Museum für Moderne Kunst) 1989.

11 Lili Fischer: Künstlerisches Zubehör für Daheim. Wiesbaden 1989. Hausgeister Ausstellungskatalog Heidelberger Kunstverein 1988.

12 Mischa Kuball/Vilem Flusser: Welt/Fall. Mönchengladbach 1991.

13 Felix Stephan Huber in einem Brief an den Autor vom 14.7.1993.

14 Paul Wember: Yves Klein. Köln 1969, S. 39 f. Pierre Restany: Ives Klein. München 1982, S. 79 ff.

15 Etymologisch macht die Verbindung jedenfalls Sinn: der Begriff "Leihen" hat die selbe Wortwurzel wie das mittelalterliche "Lehen". Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Hg. von Wolfgang Pfeifer u.a. Bd. II, H-P, Berlin (0)1989, S. 992. 1000.