Allan Kaprow: A Waste of Time "Strenger Formalismus ist ein sicherer Weg, wenn man zu chaotischen Strukturen kommen möchte." Mit diesem nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Satz stellte Allan Kaprow kurz den philosophischen Hintergrund von "A Waste of Time" klar, eines Ereignisses, das er im Rahmen der Medien-Biennale Leipzig 1994 für die Hochschule für Grafik und Buchkunst geplant hatte. Akribisch und ein wenig umständlich beschreibt er im vorher an die Teilnehmer verteilten Papier das Wie und Wo seines "event": auf zwei Ebenen der ehemaligen Buntgarnwerke sollten im Verlauf eines Tages insgesamt 14 Personen in Handlungen eingebunden sein. Mit Elementen, die aus dem Kontext der Buntgarnwerke und der Kunsthochschule naheliegen, entwirft es eine sehr spezielle Version des antiken Mythos von Ariadne, Theseus und jenem Labyrinth, in dem der schreckliche Minotaurus auf seine Opfer wartete. Konzept 9.00 Uhr - A, bewegt sich rückwärts, legt Schnur Nummer 1 (von der grossen Rolle) auf dem Fussboden der alten Fabrik aus (um Pfosten, Büroräume, Toiletten, Wandschränke, Lagerbereiche, etc. herum). B, nimmt A von vorne auf Video auf, bewegt sich vorwärts. 11.00 Uhr - C, geht vorwärts der Schnur nach zu ihrem Endpunkt, einen grossen Spiegel hochhaltend, der nach vorne gerichtet ist. C bewegt sich vorwärts. D, nimmt C von vorne auf Video auf, bewegt sich selbst rückwärts (kann sich und die Schnur im Spiegel sehen). 14.00 Uhr - E, sich vorwärts bewegend, folgt der Schnur von ihrem Anfangspunkt, beschreibt Ober Walkie-Talkie F, der sich auf einer anderen Etage befindet, die verschiedenen Kurven und Streckenabschnitte. G, nimmt E von hinten auf Video auf, bewegt sich auch vorwärts. F, spricht Ober Walkie-Talkie mit E, bewegt sich rückwärts, legt Schnur Nummer 2 gemäss E's Beschreibung aus: links, rechts, sechs Schritte, neun Schritte nach links, ... versucht die exakte Route der Schnur Nummer 1 wiederzugeben. H, nimmt F von vorne auf Video auf, bewegt sich vorwärts. . 16.00 Uhr - I, wickelt Schnur Nummer 1 von ihrem Endpunkt an wieder auf, bewegt sich vorwärts. J, hält einen grossen Spiegel frontal zu I., bewegt sich rückwärts. K, nimmt I und J von unten auf Video auf, bewegt sich vorwärts, bis die Schnur vollständig aufgewickelt ist. 18-00 Uhr - L, geht Schnur Nummer 2 von Anfang bis Ende nach, bewegt sich vorwärts, wickelt die Schnur vollständig auf. M folgt L, bewegt sich auch vorwärts, nimmt L mit der Videokamera auf. N, einen grossen Spiegel haltend, der L und .. reflektiert, bewegt sich rückwärts, bis die Schnur aufgerollt ist. 20.00 Uhr - Kleiner öffentlicher Rückblick. Alle 6 Videobänder werden gleichzeitig auf 6 Monitoren abgespielt, die in einem Kreis um die Zuschauer aufgebaut sind. 5 grosse Spiegel (circa 1,5 m x 25 cm) sind im Raum aufgehangen, um die Wiedergabe zu vervielfältigen. Anschliessend Diskussion. Allan Kaprow 1994 Allan Kaprows Ereignisse finden selten so statt, wie sie sich der Leser seiner Konzepte vorstellen mag. Zu stark beziehen sie dafür den Faktor ein, der ein wesentliches künstlerisches Material Kaprows ist: den Lauf der Dinge. Das Leipziger Ereignis machte da keine Ausnahme. Mit Verzögerung begonnen, bekam die Aktion gleich bei den ersten Personen eine unvorhergesehene Eigendynamik: ein Teilnehmer legte den Ariadnefaden so rasch und kompliziert aus, daß die Wechsel der Ebenen, Fadenverzweigungen und Fallstricke weder für seinen Kameramann noch für anschließende Teams zu verfolgen waren. Und auch die - für den Medienzweig der HGB konsequent in die Aktion einbezogenen - Video- und Fotokameras gerieten angesichts eines unerwartet dunkel ausfallenden Tages an ihre Grenzen: in einigen finsteren Gängen der riesenhaften Fabrik konnten weder Mensch noch Maschine den Leitfaden erkennen. Vollends unverhofft unterschieden sich die Grundrisse der zwei Ebenen im Hallenlabyrinth so stark, daß alle über Sprechfunk übermittelten Beschreibungen nicht ausreichen konnten, um zwei identische Wege durch das Gebäude zu markieren. Die Fäden verliefen als Folge davon völlig unterschiedlich; die dokumentierenden Videobänder zeigen - über das individuell von den Kameraleuten gestaltete Bild hinaus - im höchsten Maß unterschiedliche Ansichten von Halle und Ereignis. Was war eigentlich falsch? Nun wäre es leicht, auf die Suche nach vermeintlichen oder wirklichen Fehlern zu gehen. Hatten nicht schon die Architekten dieses in Deutschland zur Zeit größten leerstehenden Industriedenkmals einfach Unrecht, als sie die Fabrik mit zwei so unterschiedlichen gegliederten Ebenen ausstatteten? Die seit 1992 nicht mehr industriell genutzten Räume weisen auch keine eindeutig erkennbaren Spuren mehr auf, wo denn welche Funktion der Buntgarnproduktion stattgefunden haben kann: Fehlt der Fabrik dadurch ihre Prägung? Kommt es deshalb zu Irrwegen, die vielleicht durch beredte Details dieses verlotternden Umfelds noch verstärkt werden? Nein, Architekten und Stilleger haben ihre Arbeit gemacht wie tausende Arbeitende vorher auch - und alle konnten dabei nicht wissen, daß durch ihr Zutun so ein Labyrinth entstand, von dessen Handhabbarkeit 1994 Allan Kaprows "Waste of Time" abhing. Haben die Teilnehmer zuviel Eigendynamik entwickelt? (Das ist ein häufig diskutiertes Problem bei solchen Kunstaktionen, die ursprünglich einfache Dinge entwickeln wollen.) Ohne eine Theorie für diese Fragen auszuweisen, gibt Allan Kaprow zwei praktische Antworten. Jedes von ihm entworfende Ereignis findet nur einmal statt; der Verlauf der Aktion ist gültig und bleibt es. Und wenn das Ereignis bedroht ist, weil der Zeitrahmen zu eng wird, Teilnehmer ausfallen oder Stäbe zum Abrollen von Fäden fehlen, findet er praktische Lösungen: Aktionen können verkürzt werden, Stabähnliches finden sich auch in leeren Fabriken. Ist dieses gesamte Ereignis als Fehlerquelle angelegt? Daß Teilnehmer nicht den Faden finden können, nicht die Zeit einhalten, ihr Kind mitbringen, die Fabrik schöner finden als die Aktion und auf Bildersafari gehen, daß der Faden verheddert wird, daß Kunststudenten nicht gestalten dürfen (wozu sie unter anderem ja auch ausgebildet werden), daß Teilnehmer zu spät kommen, daß die Technik nicht funktioniert? Der Lauf des präzise geplanten und vorbereiteten einfachen Ereignisses sensibilisiert für die Eigendynamik, die der Lauf jeden Ereignisses birgt, aber vielleicht noch mehr über die Eigenheiten des "Faktors Mensch", wenn er als handelndes Element zum Entstehen eines Kunstwerks beiträgt. Kaprows Aktion könnte daher auch gut geeignet sein, im Zeitalter von Rationalisierungen - und bezeichnenderweise in einer leerstehenden Fabrik im Osten - auf spielerische Weise die Frage nach dem Mensch ins Zentrum zu rücken. Minima Media: Vom Einsatz der Mittel "A Waste of Time" war nicht nur ein weiteres Ereignis vom "Erfinder des Happening" - der angesichts der immer stärker kategorisierenden Verwendung des Worts längst nicht mehr glücklich über dieses Attribut ist. Vielmehr fügte sich der Event sehr sinnvoll in eine Ausstellungskonzeption ein, die ihrem Motto "Minima Media" sehr unterschiedliche Entwürfe entgegen stellte. Zunächst ist die Einfachheit der Übermittlung selbst eine Stellungnahme: Kaprow schickt ein einfaches handbeschriebenes Blatt Papier per Briefpost. Dieses bildet ein wesentliches Zentrum des Ereignisses; der Rest ist Realisation - und als solche den Eigengesetzlichkeiten unterworfen, die letztlich zum Thema der Arbeit werden. Zu einer Zeit und in einem Kontext, wo Interaktivität zu einem künstlerischen Mittel geworden ist, über dessen Verwendung nachgedacht wird und werden muß, bekommt allein schon diese Anlage der Arbeit den Charakter einer grundsätzlichen Stellungnahme. "A Waste of Time" arbeitet darüber hinaus mit Elementen, die für reproduktiv strukturierte Ausdrucksmittel - wie beispielsweise Videoarbeiten - wichtig sind: das Konzept inszeniert eine Wechselbeziehung zwischen zwei Handlungen und Räumen, die allein schon durch ihr zeitliches Hintereinander - geschweige denn der individuellen Impulse - nicht identisch werden können. Auch das Auf- und Abwickeln eines Fadens, der vom Ereignisverlauf her einen geschlossenen Kreis ergeben könnte, zeigt deutlich an, wie unterschiedlich zum stets reproduzierbaren Experiment nach wissenschaftlichen Kriterien dieses soziale ebenso wie künstlerische Material "Handlung" sich verhält. Die Videodokumentation macht das Entstehen der Markierung auch anschließend nachvollziehbar und offen für eine Analyse - ebenso wie der Faden den Weg "reproduzierbar" macht. Aber anders als es aufgrund von üblichen Dokumentationsvideos vielleicht zu erwarten gewesen wäre, protokollieren die Videos den individuellen Zugang des Aufnehmenden zum Ereignis fast noch stärker als das Ereignis selbst. Kaprows Ereignis läßt diese Überlegung auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu: die ebenso mythologisch überhöhten wie medial fundierten Spiegelungen zeigen mitunter auch den Protokollanten und damit die gesamte Versuchsanordnung. Diese sehr bewußte Distanz zur laufenden Diskussion über Medien stimuliert das Nachdenken über die Unschärferelation zwischen künstlerischem Entwurf und praktischer Umsetzung ebenso wie die wechselweise Abhängigkeit vom Realisierung, Erfassen und Herzeigen von Ereignissen. Eigentümlicherweise blieb das Publikum von diesen Elementen ausgeschlossen: das im geschlossenen Kreis der Teilnehmer entstandene Ereignis wurde erst öffentlich durch die Dokumentation und Inszenierung. Diese "eingerichtete" Arbeit mit Werkcharakter hat jedoch im Ablauf des gesamten Ereignisses eine wesentliche Funktion, die weit über das Protokoll hinausgeht. Erst hier offenbart sich für den Kreis der Teilnehmenden und genauso für das Publikum die vollständige Arbeit. Sie ist einerseits zur präsentablen Form geworden - andererseits geht sie mit der gemeinsamen Betrachtung in einen weiteren, potentiell andauernden Vorgang über: die Betrachtung der Ereignisse in den Buntgarnwerken und der damit korrespondierenden Handlungselemente und -dokumente. Zeitvergeudung! "A Waste of Time" nannte Kaprow das Ereignis gleichermaßen tiefstapelnd und treffend. Am Ende ist es auch eine Zeitvergeudung, aus diesen Vorgängen eine verbale Betrachtung zu machen, wie es mit diesem Text geschieht. Vielleicht sollte es bleiben bei der Form, die Kaprow nicht ohne didaktischen Hintergrund der Abschlußveranstaltung gab: ein Reigen aus Spiegeln, in denen Teilnehmer und Besucher sich und die dokumentierenden Videos sehen konnten, und eine kurze Aussprache über die Ereignisse, mit Schilderungen der eigenen Erlebnisse, so wie man wohlerholt von den behäbigen Geschehnissen aus den Sommerferien berichtet. In diesem Sinne vergeudete Zeit war es allemal - und davon ernährt sich Kaprows Kunst, die - ebenso indidiuell wie gesellschaftlich wirksam - mit dem Happening nicht beginnt und mit den Minima Media nicht ihr Ende findet. Johannes Stahl Veröffentlicht in: minima media. Ausstellungskatalog der Medien-Biennale Leipzig 1994, Hg. von Dieter Daniels, Oberhausen 1995, S. 22-28. |