Hirschsicht
"In Süddeutschland, wo so oft ein Hirschgehirn an der Wand hängt", versprach sich einmal ein charmanter internationaler Kunstvermittler in der ungewohnten deutschen Sprache. Im Grunde hatte er recht, trotz des Versprechers. Denn die Hirschtrophäen sind so an die Wand gehängt, als blickten sie den Betrachter an. Und egal, ob man das Hirn, was seit dem BSE-Skandal Risikomaterial heißt, entfernt hat oder nicht: wahrscheinlich sehen diese Hirschtrophäen immer noch etwas. Wahrscheinlich denken sie auch etwas dabei.
Ohne es böse zu meinen, blickt der Hirsch auf den Betrachter hinab. Man hat ihn eben so hoch gehängt, entrückt wie das Kruzifix und nicht auf die klassischen 1 Meter 50 Augenhöhe wie anderen Wandschmuck. Er bekommt dadurch eine besondere Perspektive auf seine Betrachter und auf deren Räume: wie mit dem Weitwinkelobjektiv (Hirsche sind bekanntlicherweise Fluchttiere) für eine Wohnzeitschrift aufgenommen. Er muß außerdem schon deshalb nach unten schauen, damit er nicht ständig von der Lampe geblendet wird, die in etwa auf seiner Höhe hängt. Das sorgfältig und langsam registrierende Hirschgehirn (Hirsche sind, wie man weiß, Wiederkäuer) nimmt als erster Veränderungen auf dem Kopf seiner Betrachter wahr. Während beim männlichen Hirsch jährlich zwei Enden hinzukommen, ist das beim Menschen speziell männlichen Geschlechts anders: Schuppen, Grauwerden, und das allmähliche Ausgehen der Behaarung. Der Hirsch - selbst Sechzehnender - sieht das zu Recht als Verfallserscheinung und sucht nach Gründen, die mit seinen Erfahrungen in Einklang zu bringen sind. Im Grunde wird es daran liegen, denkt er, daß den Menschen in ihrem natürlichen Lebensraum zu wenig Abwechslung zuteil wird. Menschen röhren zu wenig, ihre Brunft fällt flau und selten aus und so richtig krachen lassen die Menschen ihre Köpfe schon gar nicht - möglicherweise mangels geeigneter Instrumente auf dem Kopf. Lediglich ein kleiner Apparat in der Ecke des Raums, der an prominenter Stelle steht, hat so etwas wie Hörner auf dem Kopf. Er verhält sich schon eher hirschgemäß: da röhrt und kracht es viel heftiger und vor allem häufiger als im richtigen Leben seiner Betrachter. Wahrscheinlich beachten sie das Gerät auch deshalb so sehr.
Wenn er einmal nicht über Menschen nachdenkt, hängt dem Hirsch ein traumatisches Erlebnis nach. Einmal hat er nicht richtig aufgepaßt, als er noch lebte, und das hat zu seiner Existenz als Trophäe geführt. Es war, streng genommen, ein Fehler der Wahrnehmung. Er war hinter einer Hirschkuh her und sehr scharf auf sie. Seine Wahrnehmung war nicht scharf und so übersah er den Jäger, zu dessen Jagdglück. Wie jeder, der einmal einen entscheidenden Fehler gemacht hat, erlebt er die Situation immer wieder und denkt über eben diesen Fehler nach. Er hatte damals ein Wahrnehmungsdefizit, möglicherweise weil er der König der Wälder war, weil er hinter dieser Hirschkuh her war und vielleicht weil er überhaupt nichts anderes sehen wollte. Als Hirsch an der Wand nimmt er nun begierig alles auf, was mit Wahrnehmung zusammenhängt oder zusammenhängen könnte.
What You see is what You get: Der Hirsch kann zu wenig Englisch, um genau zu verstehen, was diese Zauberformel wirklich beinhaltet. Aber im Grunde geht es darum, das zu bekommen, was man sieht. Eine lange Reihe von Apparaten fällt ihm ein, die da im Zusammenhang steht. In den siebziger Jahren hatten lange Prospekte für Spiegelreflex - Kameras auf dem Wohnzimmertisch gelegen. Da stand "Bei der 1:1-Abbildung sehen sie bis zu 97 % des Bildausschnitts im Sucher". Möglicherweise ist das zu wenig für einen Hirsch außerhalb der Brunftzeit, aber es hörte sich verlockend an. Dann gab es die Firma Polaroid, die versprach, man könne alles sofort als Bild haben. Heute sind wir mitten im Bereich der Digitalkameras und ihrer Sucher, man sieht es wirklich sofort, aber um das Bild auszudrucken, verlassen die Menschen immer das Wohnzimmer. Infrarotsuchgeräte, Videoüberwachung, Luftaufklärung: Was hätte der Hirsch sich ersparen können, wenn er wahrnehmungs-technisch besser ausgerüstet gewesen wäre. Aber diese Möglichkeiten haben auch wieder ihre Kehrseiten: die Menschen stritten früher oft, wohin mit den vielen Sofort-Fotos; zumal sie teuer und giftig seien. Mit der teuren Digitalkamera sind noch einmal mehr Bilder gemacht worden als vorher. Sie hinterlassen aber keine Spuren, vielleicht irgendwann nicht einmal mehr Erinnerungen, wenn man sie nicht ausdruckt. Vielleicht liegt das an dieser Echtzeit, ein Begriff, den der Hirsch auch heute noch nicht richtig erklären kann. Wenn die Kinder früher auf den besagten Kasten sahen, erlebten sie das langsame Öffnen eines Augsburger Puppenkiste genannten Theaters, samt Erkennungsmelodie, und das dauerte richtig lange, ähnlich wie das Einstimmen der Instrumente (und der Zuschauer) vor einem Konzert. Der Hirsch kann sich nicht erinnern, daß der Anfang von Big Brother, (wobei ihn diese Sendung übrigens insgesamt sehr an seine eigene Situation erinnerte) ähnlich gewesen ist. Im Echtzeitalter ist das wohl nicht mehr Mode. Sobald man hinsieht, bekommt man sofort und vollständig das, was man möchte. Oder aber dann, wenn der Werbeblock vorbei ist. Und der ist halt etwas sperrig, und da stellt sich der Hirsch immer die Frage: Warum eigentlich hinsehen? Wenn jemand ihn ansieht, ist klar warum. Der Hirsch ist schön, er ist Beute, er ist möglicherweise ein gefährlicher, weil starker Gegner. Diese Begegnung spielt sich auf einer recht triebhaften Ebene ab, wo man unbedingt hinsehen muß. Deshalb sieht der Hirsch auch immer wieder gerne Werbung: Brunft, Blattschuß, Braten.
Aber da sein Körper ja auch weitgehend als Braten geendet hat, muß er differenzieren. Und daher denkt er über seine jetzige Existenz als Hirschgehirn um so intensiver nach. Natürlich weiß er, daß das Hirschrelikt eine Trophäe ist. Jäger dokumentieren so ihr Jagdglück. Hirsche werden anhand dieses Geweihs bewertet, nach den Enden. Je mehr Enden das Geweih hat, desto älter und wertvoller der Hirsch. "Kapital" nennen das die Jäger, ein kapitaler Hirsch ist vielleicht ein Sechzehnender wie er. Je mehr mögliche Enden man sieht, desto mehr Kapital - für den Esser, für den Betrachter. Kannibalen essen übrigens ihre Opfer in der Regel nicht deshalb, weil sie hungrig sind, sondern weil sie sich die Eigenschaften dieser Speise aneignen wollen. Dieser Analogiezauber schmeichelt der Hirschtrophäe an der Wand, auch wenn die Kraft des Hirsches von der des Jägers übertroffen und vereinnahmt wird. Zumindest liegt nahe, daß der Jäger das so sehen möchte, und gleich auch noch, daß das Publikum der Trophäe es ebenfalls so sieht. Aber gilt das nicht auch für alle die Bilder, die etwas unterhalb des Hirschgeweihs aufgehängt wurden? Immerhin ist da auch eine Waldszene mit einem Vierzehnender. Ob der Maler des Bilds auch ein Jäger war? Je länger er sich diese Frage stellt, desto eher wird ihm klar, daß niemand ihm diese Frage jemals beantworten wird. So sieht er das Bild an, tritt im Geiste von einem Bein auf das andere und müht sich vergeblich mit dem Verständnis ab, denn da sind noch eine Menge anderer Fragen. Und er erinnert sich, daß für ihn da früher kein Problem damit existierte, zu ergrübeln, was das Gesehene alles bedeutet. Frische Baumknospen, schöne Hirschkühe, fiese Nebenbuhler: da interessierte nicht, was das bedeutete, sondern was das war.
Der eingangs erwähnte Kunstvermittler meinte natürlich Hirsch-Gehörn, und auch damit war er wieder im Konflikt mit dem Lexikon geraten. Gehörne wachsen auf dem Rehbock; Hirsche haben ein Geweih. Das Lexikon unterscheidet zwischen Echthirsch (das ist der Rot- und der Damhirsch) und dem Trughirsch (das sind alle anderen). Im Wort Geweih steckt übrigens nicht, wie zu vermuten, das Wort Weihe, sondern der gleiche Stamm wie im Wort Zweig. Wenn der spätestens vom Jägermeisterlikör sattsam bekannte Hirsch auch noch ein Kreuz zusätzlich trägt, ist das ein Weiterwuchs. Er verdankt sich dem Heiligen Hubertus, dem auf einer Jagd ein Hirsch erschien, der ein Kreuz in seinem Geweih trug und ihn in eine Konversation verwickelte. Die Weiterverzweigung in den Bereich des Religiösen hinein hätte das Hirschgehirn, das ja bekanntlich in der Nähe des Kruzifixes hängt, auch beschäftigt. Aber dazu weiß es zu wenig darüber, und fragen kann es auch nicht mehr.
Johannes Stahl