My
name in lights - zur europäischen Ausstrahlung der amerikanischen
Graffiti
von Johannes Stahl
*
To english version of this text
Bonanza
Es wird ein wirksames Bild bleiben: auf der Landkarte, dort, wo Virginia
City liegt, brennt ein kleines Feuerchen, das sich rasch über die
ganze Landkarte ausbreitet. Indem es abbrennt, macht es den Blick frei
für die Bonanza-Familie, die malerisch über den Bildschirm
reitet. Das einfache und überzeugende Bild erzählt die Geschichte
einer Entwicklung, die von einer starken Truppe ausgeht und die ganze
Welt in ihren Bann zieht. Auch künstlerische Wirkungen stellt man
sich gerne so vor...
Für die Graffiti der New Yorker U-Bahnen ist es nur fast so gewesen.
Wo sie hinkamen, sah die Landkarte sehr unterschiedlich aus: einerseits
die stets feuergefährliche Steppe der Jugendkultur, die gerne neue
Impulse aufsaugt, andererseits die Kunstszene, die sich von solch einem
Feuerchen zwar gerne wärmen läßt, aber auch schon einmal
ihr Süppchen darauf kochen will.
"Sie
haben die Macht, doch wir haben die Nacht. Sprayaktion in Würzburg-Veitshöchheim.
Foto J. Stahl, 1990.
Eine-Welt-Kultur
Die internationale Karriere der Graffiti auf Wänden in freier Wildbahn
vollzog sich rasch und unaufhaltsam. Jugendliche in aller Welt griffen
gerne die Impulse aus den Suburbs der Metropole auf: Namen, Technik
und Gedankenwelt der New Yorker Vorbilder wurden kopiert - so gut es
eben ging
, aber mit immer weiter wachsender Perfektion. Man traf sich, zog die
Mütze mit dem Schirm nach hinten auf, war aktuell - und wurde von
den kommerziellen Strategen der Jugendmode genau beobachtet. Aus dieser
Beobachtung entwickelte sich jene Mischung aus Mode, Sozialpädagogik,
kreativem Übermut und Selbstbestimmung, wie sie für die Präsentation
von Jugendkultur allgemein typisch ist .
Der Weg war nicht weit zu solchen Produkten wie dem Graffiti-Duschvorhang
oder dem Graffiti-Preisausschreiben ausgerechnet einer Bausparkasse,
in dem Jugendliche einen Spruch auf einem Häuschen-Entwurf anbringen
sollten, um so die Lust an der eigenen Scholle zu entwickeln und eventuell
eine Reise nach New York zu gewinnen .
Am ehesten liefen die Wirkungen der US-Sprayer auf die europäische
Jugendkultur über persönliche Kontakte: Bando oder der Brühler
King Pin waren recht früh bei den Kollegen in New York; in Amsterdam,
wo der Galerist Yaki Kornblit seit 1983 Ausstellungen New Yorker Sprayer
zeigte, entwickelte sich schon frühzeitig eine eigene Sprayerszene
mit New Yorker Formensprache .
Diese Szene hat sich heute gewaltig weiterentwickelt: kaum ein Wochenende,
wo nich irgendwo ein Sprayworkshop stattfindet. Mittlerweile engagieren
sich viele Kommunen auch finanziell für die früher bekämpften
Graffiti. Klassiker und ihr Nachwuchs sorgen insgesamt dafür, daß
die Städte bunter werden, und mit jedem Auftritt wächst die
Fangemeinde. Auch offizielle Lorbeeren häufen sich auf den Häuptern
der Sprayer: Quiks piece findet Beachtung in der Heidelberger City,
dort wo sonst im Viertelstundentakt städtische Bedienstete für
die Sauberkeit der romantischen Altstadt sorgen. Rammellzees Projekte
prägen Orte mit hoher Öffentlichkeitswirkung einer Kirche
in Utrecht oder den Frankfurter Flughafen. KOORs Arbeiten schließlich
bilden nicht weniger als einen Hauptbeitrag für den offiziellen
Auftakt der Veranstaltungsreihe, mit der sich Brüssel als europäische
Kulturhauptstadt 1991 präsentiert. Die Sprayer scheinen nicht mehr
aufzuhalten zu sein. Auch die Polizei fragt deutlich höflicher
nach den schriftlichen Genehmigungen und entschuldigt sich fast: wir
müssen solchen Anrufen nachgehen, aber wir sehen schon auch, daß
das Kunst ist...
Go ahead! Be an artist!
Komplizierter
vollzieht sich die Entwicklung der Graffiti auf dem Gebiet der Kunstausstellungen.
Als die New Yorker Sprayer sich anfangs der achtziger Jahren anschickten,
die Galerien und Museen in Europa zu erobern, fanden sie ein Publikum
vor, dessen Augenmerk schon seit längerem geschärft war für
die öffentlichen Wände und was zunächst sehr skeptisch
fragte, was sich von dieser Bühne aus auf die Wände von Kunsträumen
übertragen läßt. Die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts
bildet den Hintergrund solcher Überlegungen. Seien es politische
Graffiti wie bei Heinrich Zille, formale Merkmale wie bei George Grosz
und Antoni Tápies oder gar auf Erstürmung der Mauern ausgerichtete
Haltungen wie die von Gaston Chaissac: Künstler hatten sich von
dieser Quelle reichlich beeinflussen lassen. Die Wände, ihre Zeichen
und ihre Wirkungen bilden allerdings nur einen wichtigen Humus, auf
dem Künstler ihre ansonsten eigenständigen Arbeiten zum Blühen
bringen. Eine ähnliche Wirkungsweise erwartete man auch bei den
New Yorker Sprayern stillschweigend .
Der
Sprayer von Europa
Harald
Naegeli: Graffito in Düsseldorf. Foto J. Stahl 1985
Wichtiger noch war die Vorgeschichte jener Graffiti, die in Europa schon
Traditionen hatten. Die Kristallisationsfigur für eine solche Haltung
ist der Sprayer von Zürich, Harald Naegeli. An Erwartungen und
Gedanken um das Idealbild des "Sprayers", wie er in einigen
Buchtiteln anfangs der achtziger Jahre noch unbestritten allein hieß,
wurden seine US-Kollegen gemessen.
Mit Wurzeln in den unruhigen Studentenzeiten der späten sechziger
Jahre, einem Psychologiestudium und jahrzehntelanger zeichnerischer
Übung als Hintergrund, hatte Naegeli um die Mitte der siebziger
Jahre die Spraydose als sein künstlerisches Ausdrucksmittel entdeckt.
Die geheimnisvolle nächtliche Arbeitsweise des Unbekannten sowie
die auf den Mauern des sprichwörtlich sauberen Zürich tanzenden
Zeichenwesen machten ihn zum Phantomhelden. Seinem ästhetisch wie
moralisch überlegenen Erfindungsgeist und zeichnerischem Charme
gab sich das europäische Publikum gerne hin. In selbst herausgegebenen
Texten markierte er zudem den konzeptuellen wie politischen Anspruch
seiner Arbeit:
"Man muß die Worte picassos >Malerei ist nicht erfunden
worden, um Wohnungen auszuschmücken: sie ist eine waffe zu angriff
und verteidigung gegen den Feind<; begreifen lernen, besser begreifen
lernen als der meister" .
Konsequent lehnte er einen Verkauf seiner Graffiti ab. Noch heute erwarten
viele Auftraggeber, daß gesprayte Kunstwerke nichts kosten außer
dem Material und dem Idealismus der Sprayer, den man mit einem schönen
Abendessen wecken kann.
Harald Naegelis Sprayzeichnungen bezogen sich konkret auf architektonische,
städtebauliche und politische Inhalte. In diesem gewohnten Schema
erwartete man das gleiche von den New Yorker Sprayern: der beste Platz
ihrer Arbeiten war auf der Straße; sie sollte sich auf den Alltagsbereich
beziehen und sie durfte ruhig auch politisch sein.
Einen bezeichnenden Vergleich zog Walter Grasskamp anläßlich
dieser Konfrontation im Kölnischen Kunstverein 1981:
"... ein anderer namens Fred (Gemeint ist Fred Brathwaite, J.S.)
sprayte im Kölnischen Kunstverein parallel zur Ausstellung von
Fotografien der Totentanz-Serie des Zürcher Sprayers, wobei der
Gegensatz dieser beiden Graffiti-Kulturen augenfällig wurde, leider
auch darin, daß der artistische Anspruch des New Yorker Sprayers
durch seine Arbeiten nur unzureichend abgedeckt wurde."
Jambon
beurre: graffiti francophones BLEK:
Pochoir, Paris. Foto: J.Stahl, 1985
Ein
besonderes Klima trafen die amerikanischen Graffiti in Frankreich an.
Hier bemüht man sich offiziell seit Jahren, Amerikanismen aus der
Alltagssprache fernzuhalten: die Verwendung des Worts "week-end"
steht quasi unter Strafe, da eine Sprachkomission dafür das französische
"fin de semaine" empfielt. Daneben hatte die Beschäftigung
mit und die Verwendung von Graffiti gerade in Frankreich eine starke
Tradition, die die wichtigen Künstlernamen unseres Jahrhunderts
einschließt. Universitäten waren in den späten sechziger
Jahren besetzt worden, die geforderte Befreiung von Gedanken und Sprache
ging Hand in Hand mit der "Erstürmung der Mauern durch die
Parolen". Theoretiker wie Frank Popper oder Jean Baudrillard hatten
die New Yorker Graffiti gern in den gleichen gedanklichen Zusammenhang
eingereiht .
Probleme bereiteten in Frankreich aber nicht nur die sprachlichen Schwellen,
sondern auch andre Faktoren. Für Blek le Rat, der ein umfangreiches
Kunststudium hinter sich gebracht hatte, war es nicht denkbar, die New
Yorker Formensprache einfach zu übernehmen .
Daß sein eigentlicher Vorname Xavier dabei zu "Zephyr"
wurde, ist ein bezeichnender Umstand: der Name ist dabei keine Huldigung
an den New Yorker Spraykünstler gleichen Namens, sondern eine lautliche
Umsetzung ins Amerikanische.
Nach unbefriedigenden Versuchen griff Blek Formen auf, die in den politischen
Graffiti üblich waren und entwickelte auf der Basis seiner grafischen
Kenntnisse eine ausgefeilte Schablonentechnik. Diese hatte auch den
Vorteil, in von der Polizei gut kontrollierten Bereichen rasch, effektiv
und dennoch elegant arbeiten zu können. Es mag eine Folge der Sprachschranken
und der entsprechenden Verbreitung von Büchern sein, daß
die Schablonengraffiti gerade im französischsprachigen Raum weitverbreitet
wurden und in Kanada oder der Schweiz weitere Blüten trieben.
Den New Yorker Spraykünstlern gegenüber blieb man relativ
reserviert: größere Ausstellungen waren nicht zu sehen und
auch für deren Art, sich an den Mauern auszulassen, hatte man eher
Spott übrig: aus einem übrigens auch in Schablonentechnik
arbeitenden "Jean Bombeur" wurde das gleichlautende "Jambon
beurre" - der Wandbomber Jean als Butterschinken.
Die
Sprayer leisteten in Europa solchen vorgeprägten Mißverständnissen
leider oft Vorschub. Sie ließen nicht nur die so oft diskutierte
politische Komponente der Bilder im öffentlichen Raum außer
acht oder taten sie mit Kommentaren wie "es macht einfach Spaß"
ab. Auch das Auftreten der writer selbst bediente europäische Vorurteile.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zeigten sich die Spraykünstler
als Gruppe und präsentierten sich - mit Rap und Electric Boogie
- mehr als soziokulturelles Phänomen der nimmermüden Metropole
denn als ernsthafte bildende Künstler. Im Vergleich zu amerikanischen
oder europäischen Künstlern, die vorher im Blickpunkt des
Interesses standen, wurden Bilder oft schnell gemalt und manchmal ist
von den Sprayern vielleicht wirklich vergessen worden, daß sie
in privaten Sammlungen oder Museen den prüfenden Blicken von Liebhabern
über Jahre hin ausgesetzt sein würden. Und das Kunstpublikum
war gewiß überfordert, sich über Nacht auf diese völlig
andere Selbstauffassung der Künstler einzustellen, die weder spirituelle
noch historische oder emotionale Maßstäbe bediente.
Modelle
für Karrieren von Kunstauffassungen: Pop art und Fluxus
Quik:
GO AHEAD, BE AN ARTIST! Spray auf Leinwand, 1990
Kunstrezeption
tut sich schwer mit dem Alltäglichen, denn von Kunst wird zunächst
einmal das genaue Gegenteil erwartet .
Für eine Karriere amerikanischer Kunst von der Straße ins
Museum hält die Entwicklung unseres Jahrhunderts vor allem zwei
vergleichbare Muster parat: Pop art und Fluxus. Beide sind heute klassische
Epochen, deren Werke teuer und rar sind, und beide hatte ihre großen
Erfolge zunächst in Europa. Geradezu exemplarisch war der überaus
erfolgreiche Bildersturm des Galeristen Sidney Janis, dessen Pop art-Riege
in erstaunlicher Geschwindigkeit zu großer und andauernder Wirkung
kam. Namen wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Robert Rauschenberg
sind heute als Programm gültig und aus keinem europäischen
Museum wegzudenken. Manche Amerikaner kommen sogar eigens nach Europa,
um umfassende Werkgruppen ansehen zu können, nach denen sie im
Ursprungsland der Pop art mitunter vergeblich suchen müssen - ein
Schicksal, das umgekehrt (beispielsweise für italienische Renaissance-Zeichnungen)
übrigens auch gilt.
Aus diesem Umstand läßt sich zumindest gedankliches Kapital
schlagen. Es ist kein Wunder, wenn der niederländische Sammler
Henk Pijnenburg in einer die sechziger und die achtziger Jahre vergleichenden
Eröffnungsrede die Paralelle zieht: "Während Amerika
noch argwöhnisch zuschaut, findet vor ihren eigenen Augen der Kunstraub
des 20. Jahrhunderts statt."
Die Paralelle hat Grenzen, auch wenn manches Bild von Quik, Seen oder
Crash ähnliche Wurzeln hatwie berühmte Pop-Bilder und wenn
Fab Five Freddy diesen Bezug mit seinen Warhols "Campbells Soup
Cans" auf der Subway deutlich markierte. Für die Pop-artists
war es ein erklärtes Ziel und eine Strategie, die Kunst mit der
hintergründigen Banalität der Alltagsgegenstände zu infizieren.
Und das konnte sich nur in vorher abgezirkelten Kunsträumen abspielen.
Der verfremdende Effekt, den die Alltagsgegenstände auf den Kunst-Rahmen
des Museums oder der Galerie ausüben, wäre sonst überhaupt
nicht eingetreten.
Die New Yorker Sprayer hatten sich dagegen als geheime Gesellschaft
mit hoher Öffentlichkeitswirkung längst installiert, als der
Kunstmarkt nach ihren Bildern griff und die writer veranlaßte,
auf Leinwand zu sprayen. Die eigentliche Faszination ging folgerichtig
gar nicht von den Bildern und ihren Bildgegenständen aus, sondern
vom Lebensstil der Sprayer. Ihr illegaler Status, ihre Herkunft aus
den Slums, ihre Musik war interessant. Die Malerei drückte zwar
jene "urban high folk art" visuell aus, wurde aber eben nicht
als "Werke" wahrgenommen - einige Bilder hängte man sogar
unter die Decke von Galerien. Eine Art Kolonialismus fand statt: getauscht
wurden Rohstoffe auf der einen Seite gegen den gesellschaftlichen Überbau
andererseits. Auch die zahlreichen Zusammenarbeiten von traditionellen
Künstlern mit Sprayern konnten diesen Mechanismus nicht grundsätzlich
abstellen. Jenny Holzer mit Lady Pink, John Fekner mit Crash/Daze, Keith
Haring mit allen: viele dieser kollaborativen Projekte dauerten nur
kurz und konfrontierten den theoretischen Anspruch der traditionellen
Künstler mit der schillernd-trivialen Bildwelt der Sprayer. Die
Pop-Künstler hatten dieses Wechselverhältnis noch sehr bewußt
und zu ihren Gunsten inszenieren können; die Graffiti-Künstler
haben dagegen heute noch mit den damals aufgenommenen Hypotheken zu
kämpfen.
Ein weniger offensichtlicher Vergleichsfall für die europäische
Erwartungshaltung gegenüber den Sprayern ist die Fluxus-Bewegung.
Es ist bemerkenswert, wie viele der mit dieser "Bewegung"
in Zusammenhang stehenden Künstler sich auch mit Graffiti beschäftigt
haben: Al Hansen dokumentierte beispielsweise New Yorker Graffiti, Joseph
Beuys verwendete sich anläßlich der documenta 7 1982 in Kassel
für die New Yorker Galerie Fashion Moda, Henry Flynt stellt jüngst
seine Fotos der Graffiti von Samo (Jean-Michel Basquiat) aus. Auf dem
Boden der vielköpfigen Fluxus-Theorien erwartete man eine Kunst,
die ihren Platz klar außerhalb der üblichen Vermittlungsorte
definiert und entweder diese Orte revolutionsartig erweitert oder aber
den Versuch der Zähmung mit jenem Häufchen Asche beantwortet,
als das sich wichtige Fluxus-Arbeiten in Museen häufig wiederfinden
:
Relikte von vergangenen Aktionen, unscharfe Dokumentationsfotos, programmatische
Gestaltlosigkeit.
Die Diskrepanz zwischen dieser Erwartung und den Arbeiten der Sprayer
ist offensichtlich. Waren schon für die "pieces" auf
den U-Bahnen strenge Regeln für die handwerkliche Perfektion im
Umlauf, so galt das für die Leinwandarbeiten erst recht. Konzeptuelle
Überlegungen wie die schöpferische Reibung von Inhalt und
Form, die den Fluxus-Künstlern vorschwebte, waren für die
Sprayer weit entfernt: sie wollten eher Bilder herstellen, die überzeugten,
wie es in der Werbung üblich ist.
Quik
vor der von ihm besprühten Kirche in Wiesbaden-Erbenheim, 1989.
Foto: J. Stahl
Es
bleibt nicht viel, womit die Paralelle zur Fluxus-Bewegung die Sprayer
besser verstehen lassen könnte, außer dem Moment der Bewegung
selbst. Ein dafür geradezu exemplarisches Schicksal hat eine Kirche
in Wiesbaden-Erbenheim erlebt. Ihre würdige Fassade war 1982 von
anläßlich einer Ausstellung versammelten Fluxus-Künstlern
besprayt worden. Die chaotische Benutzung rief vehementen Protest der
Bevölkerung hervor - allerdings erfolglos: diese Fassade war Privatbesitz
und die Rechtslage deshalb genau umgekehrt als üblicherweise, wo
illegal auf fremder Leute Eigentum gesprayt wird. 1989 gab der Besitzer
der Kirche, der Wiesbadener Sammler Michael Berger, die Fassade zur
Neugestaltung frei: einheimische und internationale Sprayer beteiligten
sich. Quik, dessen bunter Namenszug sich vor allem an der Wand breitmachte,
kommentierte die kunsthistorische Komponente dieses Vorgangs so: "It's
a great feeling going over Joseph Beuys."
1991 haben die Wiesbadener Sprayer die Wand in Beschlag genommen. Fluxus
war schließlich mit dem Ziel der ständigen Offenheit für
Veränderungen angetreten...
Theorie
Am meisten machte dem Vorwärtskommen der Sprayer in Europa zu schaffen,
daß sie kaum einen theoretischen Überbau aufwiesen. Genaugenommen
hat es nie im 20. Jahrhundert eine Kunstrichtung gegeben, die sich der
Theorie derart verschloß wie die Graffiti. Theorien wurden deshalb
immer wieder von außen an sie herangetragen.
Für Jean Baudrillard dienten die Graffiti als ein Beispiel für
die "Revolution der Zeichen ".
Gerade daß sie für den zugereisten Europäer keine griffige
Bedeutung ablesen ließen, wertete er als revolutionär. Er
kann sich allerdings den Vorwurf nicht ersparen, daß er sich mit
diesen theoretisch äußerst stimmigen Ergebnis zufrieden gibt
- und darüber gar nicht den Versuch macht, die Botschaften zu verstehen.
Es bleibt zu fragen, ob es nicht eine Seelenverwandtschaft ist, die
Rammellzee dazu gebracht hat, einen inflationären Wust von Theorien
und -ismen von sich zu geben .
Mit dem schillernden Bild, was der multimedial arbeitende Künstler
dadurch von sich gestaltet, gleicht er immer deutlicher - und zwar bewußt
- dem Entwurf, in dem der europäische Theoretiker die writer als
unbewußt revolutionär sehen wollte.
Paul
Gavarni: "Das Feuer, mein Guter, ist ein Element unserer Existenz!"
- "Danke schön."
Lithografie, 1836
Black men creating art history
Die Kunstgeschichtsschreibung tut sich schwer mit den Sprayern. Einerseits
sind es so viele, daß selbst dem Kunstmarkt die Auswahl schwerfällt
.
Andererseits beschränken sie sich nicht auf den Kontext von Museum
und Galerie, sondern sind an vielen Orten und auf vielen Niveaustufen
gleichzeitig tätig. Und drittens verläuft ihre Entwicklung
viel sprunghafter als die von Künstlern, die die akademische Laufbahn
durchlaufen: oft erscheint daher auch die Zukunft als bildender Künstler
nicht sicher. Auswahlen müssen daher immer wieder die eigenen Kriterien
revidieren, wie denn gute Kunst Marke "New York Graffiti"
aussehen sollte. Es ist bezeichnend, wenn dann A.A. Arnason die Spitzenleute
der 10000 "Graffitists" nur knapp erwähnt, um anschließend
genau die Künstler herauszuheben, die sich von der Akademie her
den subway-Arbeiten ein wenig genähert haben .
Allerdings fühlen sich auch nicht alle Sprayer im Zusammenhang
der kunstgeschichtlichen Ableitungen wohl:
"Words like >Graffiti< and >Graffito< only minimalize,
direct and controll an art of tremendous magnitude, endless direction
and unpredictable aspects. A toad is not a frog nor a larve a fly yet
such is not the case of this inner city phenomenon ... Titles have admittedly
been used to satisfy an unreceptive "public" unprepared to
deal with the internal reality of this art and its existance."
Zukunft
Es
bleibt einem seine eigenen Kriterien gewöhnten Publikum nichts
übrig, als sich eingehend mit den Spraykünstlern, ihrer Geschichte
und Gedankenwelt zu beschäftigen .
Wie alle Hintergründe von Kunst, sind auch diese erläuterungsbedürftig
- ohne viel Zeit und etwas Einweisung in die Hintergründe erschließt
sich von den zahllosen Details der Bilder kaum etwas. Bilder wie "Style
wars" von Noc lassen erkennen, daß die "Graffiti"-Bilder
die europäische Kunstgeschichte nicht brauchen, weil sie ihre eigene
faszinierende Geschichte haben. Es lohnt sich, dieser Geschichte zuzuhören:
sie ist durchdrungen von persönlichen Erlebnissen, dem ständigen
Zwang, sich in der amerikanischen Gesellschaft repräsentativ zu
behaupten. Und immer wieder ist es der latente oder offensichtliche
Rassismus in den USA, der den Sprayern ebenso zu schaffen macht wie
eine zunehmend randgruppenfeindliche Kunstpolitik ,
die bestimmte Kunstäußerungen geradezu inquisitatorisch verfolgt.
Aber: "Die Amerikaner werden mit der Tatsache fertig werden müssen,
daß der "Schwarze" sein Recht fordert als wirklicher
Mensch und Künstler."
Schließlich
haben die Spraykünstler ein Potential, aus dem sie schon immer
geschöpft haben und das noch lange nicht versiegt ist: ihre Geschichte,
ihre Wahrnehmung und ihre Phantasie. Blade beispielsweise spricht
von Tausenden von Bildern, die er im Kopf hat und nur zu malen braucht
und deren Startpunkt die pieces auf den subways sind.
Daher ist es in den Augen der ehemaligen subway artists nicht nötig,
auf der Leinwand den oft geforderten künstlerischen Neubeginn zu
suchen .
Ein Neubeginn wäre eher für die Betrachtung solcher Arbeiten
sinnvoll - erst dann beginnt eine Chance, die eigene Optik zu erweitern.
Die Bilder, seien sie auf Züge, Wände oder Leinwände
gesprüht, bekommen dann ein Leben, das die Frage nach der Theorie
relativiert und damit auch ein allzu striktes Wertegefüge bereichert.
Es kann lange dauern: vom ersten Enthusiasmus in Europa für Jazz
oder Blues bis zur Anerkennung als ebenbürtiger Kultur vergingen
Jahrzehnte. Es liegt am Betrachter, ob der Weg der Spraybilder in den
Tunnel zurückführt - auch Museumsdepots sind oft unterirdisch
- oder ob die Namen der Sprayer einmal ähnlich als Leuchtschriften
am Kunsthimmel aufgehen, wie es sich Chuck Berry für seinen Johnny
B. Goode träumte: My name in lights ...
*
Der Text wurde - geringfügig geändert - publiziert in:
Coming
from the subways. New York Graffiti. Ausst.Kat. Groningen (Groninger
Museum),1992 S. 26-31.
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