Anstösse, Rasenkultur
Ein Gespräch
12. Oktober 2005, die Lobby eines Tennisstadions in Halle/Westfalen, am Abend. Eigentlich habe ich lesen wollen, Voltaires "Candide", eine ins Phantastische geratende Begegnung mit den ebenso üppig-angenehmen wie exotischen Kulturen Südamerikas. Aber dazu kommt es nicht. "Da gefällt's mir besser als in Westfalen" ... : als ich gerade die Überschrift hinter mir habe, werde ich halb unfreiwillig Zeuge einer Unterhaltung zweier alter Bekannter. Aber je länger ich zuhöre, scheint mir wie in "Candide" zu gelten: jede Ähnlichkeit mit wirklichen Umständen ist strikt ausgeschlossen.
Paolo ist 48, ziemlich bekannt und hat seine besten Fußballerjahre in Bielefeld erlebt, bevor er - des besseren Klimas für viele seiner Lebensumstände wegen - nach Brasilien zurückgekehrt ist. Insgeheim hofft er auch heute immer wieder einmal, die nervlich ungesunde Trainerexistenz mit dem ruhigeren Fahrwasser kultureller Berufe vertauschen zu können.
Michael steckt in den letzten Zügen seines Soziologiestudiums in Bielefeld. Wegen Knieproblemen hat er als Aktiver aufhören müssen, aber als freier Sportjournalist mit guten Kontakten verdient er durchaus mehr als seine Kommilitonen. Allerdings nerven ihn die kulturellen Wechselbäder zwischen den Spielen auf der Bielefelder Alm und den Seminaren zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. Er weiß nicht, ob er das während der Prüfungen durchsteht. Auch für die ehemals studierenden Fußballer und Zimmergenossen Uli Hoeneß und Paul Breitner war ja das Studium irgendwann zur Nebensache geworden ...
M: Paolo, Was heute keiner mehr weiß: einiges von Deinem vielen damals verdienten Geld hast Du in ein Kunstgeschichtestudium investiert. Du wolltest anschließend in diesem Berufsfeld zu Hause in Brasilien weiter machen. Gut aussehende Studentinnen, weltläufige Sprachen, die elegante Aura von Galerie und Museum: was ist die schönste Nebensache der Welt? Wo es um Emotionen geht, um Dramatik und Eleganz, um Engagement und nicht zuletzt um etwas, wo jeder mitreden kann?
P: Frag nicht mich, frag Willi Lemke. Der heutige Bremer Bildungssenator war früher der Manager vom SV Werder Bremen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er mit dem Intendant des Schauspiels eine gegenseitige Zusammenarbeit vereinbart: Die Fans sollten ins Theater, das Theaterpublikum bekam die Möglichkeit, ins Weserstadion zu kommen und ein Spiel zu sehen.
M: Du bist heute Trainer. Kaum jemand kann sich auf Dauer dem System Fußball völlig entziehen. Aber gerade kulturell ist das ja auch ein interessantes Feld. Hochämter mit allem, was dazugehört: Massenhypnosen, kollektive Erlebnisse, Kanonbildung. Kein Wunder, dass doch einige ehemalige Sportreporter erfolgreiche Museumsleute geworden sind. Gibt es da für Dich nicht viele Übergänge?
P: Klar gibt es diese Beispiele. Aber wenn Du ehrlich bist: die meisten Kunstleute kommen aus anderen Zusammenhängen, enger kulturellen Bezügen eben. Ich erinnere mich an eine Ausstellung in Kaiserslautern, 1989. "Fußball in der Kunst": das Tal mit der Stadt, der Betzenberg und genau gegenüber die Anhöhe mit dem Museum, der Pfalzgalerie. Ich sah das als eine gleichwertige kulturelle Aufteilung, diese Ausrichtung der Stadt zu den beiden Hügeln hin. Aber lediglich einige der alten WM-Elf kamen zur Eröffnung. Von der Ausstellung blieb ein Katalog zurück und vor allem erinnere ich mich an eine mehr oder weniger einsame Fußball-Skulptur im Foyer. Neben ihr wurde eine Zeitlang noch die jeweils neue Selecao von Kaiserslautern fotografiert, und die Mannschaft ging dann nahezu ebenso regelmäßig nicht weiter ins Museum hinein. Mussten wohl trainieren.
M: Keiner muss sich für zeitgenössische Kunst interessieren. Aber dieser kulturelle Unterschied lässt sich auch systemtheoretisch erklären: Museen sind langlebige und langsame kulturelle Komponenten. Auch Ausstellungen als Ereignisse brauchen viel Zeit zum Entstehen, um akzeptiert zu werden, um Änderungen durchzusetzen. Beim Fußball ist der Ball in Bewegung, Tatsachenentscheidungen, Abpfiff, abwischen, neues Spiel. Der Ball darf eben nicht skulptural im Museum liegen bleiben. Er muss im Spiel gehalten werden wie Erwin Wurms Orangen vom eleganten Beckenbauer auf dem neuen Plakat für die "Rundlederwelten" in Berlin. Klar, wenn der Riese Fußball dann wieder weggeht, fällt die Orange Kunst ...
P: Du hast die Ausstellung damals in Kaiserslautern nicht gesehen, aber manche der Bilder würden Dir Recht geben, weil sie nur nachillustrieren, was im Spiel viel spannender abläuft. Interessanter waren für mich solche Ikonen der Bewegung, rätselhafte Chiffren, wie bei Martin Noël, der seine Bilder nach Fußballern benennt, ohne dass sie da konkret einen Zusammenhang hätten. Dem nehmen auch Fußballer die Bilder ab, weil er sie ernst nimmt. Was auch gut klappt: den Fußball zu ironisieren wie Polke, Duchow oder Stefan Demary, der eine Miniaturfußballertrophäe gegen die Wand treten lässt. Das war einige Zeit vor Klinsmanns Tritt in die Werbetonne des Sponsoren.
M. Diese Ironie mit dem Tritt gegen die Wand verträgt die Fußballwelt auch besser als der Sponsor den Angriff auf seine Werbeanlage. Andererseits zeigt es, wie aussichtslos Versuche sind, gesellschaftliche Ereignisfelder voneinander abzugrenzen. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg zum Propheten. Und dann findet die WM eben einfach im Museum statt, im Foyer werden die Spiele live gezeigt, und die Bude ist endlich einmal voll.
P: Wenn das ein Künstlerprojekt ist wie von Kalaman 2002 in der Kölner artothek, geht das. Aber: fette Reklameblöcke während der Spiele, Privatwerbung in öffentlichen Häusern der Kultur? Jetzt bin ich es, der soziologisch wird: Im Fußball ist Sponsoring Prinzip, der Austausch Geld gegen kommerzielle Werbebotschaften. Im deutschen Kulturbetrieb zumindest ist es zu über 90% eine öffentliche Förderung, weil man sich in Deutschland als Kulturstaat versteht. Das ist in Brasilien übrigens etwas anders.
M: Ein Zitat: "Seit über 90 Jahren ist die Förderung von Sport- und Kulturvereinen fester Bestandteil der Unternehmensphilosophie unseres Hauses. Wir sind stolz darauf, daß beide Bereiche - unabhängig von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - bis heute prosperieren und über die Werksgrenzen hinaus von sich reden machen."
P. Das hört sich aber stark nach einem Katalogvorwort an, nach einem Konzern und vor allem nach früher einmal. Kultur- und Sportsponsoring: welche Firma macht das denn heute noch auf gleicher Augenhöhe, und mit welchem verbindenden Imageziel?
M: Das stammte vom Vorstandsvorsitzenden der Bayer AG in Leverkusen, 1997. Das ist die erste größere Kunstausstellung, über die ich geschrieben habe, daher weiß ich das noch so genau.
P: Und was steht im Katalog drin?
M: Wenn ich mich recht erinnere, geht der Text an den einzelnen Arbeiten entlang - fast wie die Kamera beim Abfilmen der Mannschaft während der Nationalhymne. Und die Zwischenüberschriften heißen "Abwehr", "Mittelfeld" und so ähnlich.
P: Sorry, dass ich Dich hier so ausfrage ist eigentlich unfair. Ich habe die Ausstellung nämlich auch gesehen, das war doch im Edel-Bereich, Südtribüne des damaligen Ulrich-Haberland-Stadions. Ein Riesenfenster mit bester Sicht auf den Rasen, Lobbybetrieb mit gutaussehender Bedienung, die Reproduktionen der gewonnenen Pokale in sorgfältig geputzten Vitrinen: da war Kunst doch sehr viel weniger wichtig als die schönste Nebensache der Welt. Trotzdem habe ich sogar ernsthaft darüber nachgedacht, ob das in Brasilien auch möglich wäre. Ist es nicht, und auch in Leverkusen ist das Unternehmen mehr als schwierig gewesen. Im Grunde hat die ganze Ausstellung trotz der vielen Belege für Verbindungen die beiden Bereiche eher klar getrennt. Es war ein Gefälle in der Wichtigkeit, wie zwischen den üblicherweise im Opernfoyer gezeigten Bildern und der Oper. Kein Wunder, dass das Bild von Gibbs zu sehen war mit dem Stinkefinger von Effenberg. Übrigens war nahezu die gleiche Ausstellung 2000 dann im Kölner Sport- und Olympiamuseum zu sehen, und das ging inszenatorisch besser und von der Augenhöhe her, auf der man sich begegnete ...
M. Hierarchien und Regeln gibt es überall - das musste ja auch Effenberg akzeptieren. Aber was die "Aufmerksamkeitsökonomie" angeht und nicht zuletzt das gemeinschaftsbildende Ereignis, steht bei Fußball immer ein spürbarer Effekt zu erwarten. Museen sollten da nicht abseits stehen, sondern für eine Zusammenarbeit genau das in die Waagschale werfen, was sie anzubieten haben: eine noble, konzentrierte Atmosphäre, ihre Versiertheit für alles Optische und nicht zuletzt ihren kleinen Platz im öffentlichen Bewusstsein.
P: Da sind wir an einem Punkt,wo ich meinem Idol Beckenbauer nicht zustimmen kann: "Durch viele Kunst-Projekte wird Fußball zur Hochkultur". hat er am 30.8.2005 gesagt, anlässlich der Pressekonferenz, in der das Kulturprogramm der Fußball-WM 2006 vorgestellt wurde. Und jetzt scheint das Kulturelle der Eröffnungsveranstaltung wegen der Rasenkultur in Frage gestellt. Aber da kann Beckenbauer nichts dafür. Ganz jung hat er in seine Bildung investiert, mit bekannt positiven Folgen. Und mit Kunst hat er immer wieder zu tun gehabt. H.A. Schult hat seinen Müll gestohlen und zu Kunst gemacht, Andy Warhol hat ihn porträtiert ...
M: Schon gut. Soziologisch gesehen sind Pressekonferenzen doch meistens auch so etwas wie Vorworte. Trotzdem: was soll jetzt falsch sein an seinem Spruch?
P: "Der Ball besitzt ein Eigenleben; er gehorcht nur dem, der sich auf seine Individualität einlässt und seine Psychologie nicht bricht, sondern auffängt und bewahrt." hat Horst Bredekamp 1982 in seinem Aufsatz "Fußball als letztes Gesamtkunstwerk" geschrieben. Nicht durch viele, sondern nur durch individuell gute Ereignisse kann Fußball zur Hochkultur werden. Mir scheint, auch im Fußballspiel selbst ist das die bessere Strategie.
M: Ist "Das Wunder von Bern" Hochkultur?
P: Meinst Du das Spiel selbst oder den Film von Sönke Wortmann? Das Spiel ist Leitkultur, Nationalkultur. Der Film ist eher Hochkultur - den würde man sich vielleicht auch in Brasilien ansehen. Dann allerdings eher die Kulturbürger, und die eher mit Untertiteln und einer kommentierenden Einleitung. Das Spiel 1954 als Reportage wiederum würde dort kaum jemanden interessieren.
M: Meinst Du nicht, dass jetzt ganz interessante Ausstellungen zum Thema kommen können?
P: Ich glaube eher nicht, weil das kuratorisch schwierig ist. Natürlich kann man endlos Bilder zusammentragen. Das könnte man dann beispielsweise schon 1617 mit Jacques Callots Stich vom Calcio anfangen, dann Thomas Rowlandsons Billy Lackbeard & Charley Blackbeard, als politische Satire auf zwei ratlose Politiker 1784 erwähnen und so weiter - aber will man da wirklich eine Kulturgeschichte des Fußballs schreiben oder eine Themenausstellung machen, beispielsweise: "Kunst, Fußball, Politik"? Oder man könnte konkrete Aufträge oder offene Wettbewerbe für heute lebende Künstlerinnen und Künstler ausschreiben. Aber dann existiert immer das Problem: mache ich vorab ein Trainingslager, Exerzitien, wie das jemand aus den Kreisen der katholischen Kirche einmal für religiöse Kunst vorgeschlagen hat?
M: Dann gibt es auch ein soziologisches Rahmenkonzept als Möglichkeit wie "Kultort Stadion" zur Kultur der Fans 2004. Das kenne ich, da hätte ich sogar mitarbeiten können. Aber das ging nicht mit Studium und Journalistendasein zusammen, rein zeitlich.
P: Oder ich lasse den Kuratoren-Zügel locker, mache hinten kunsthistorisch alles dicht und hoffe, dass die Künstler vorn in der Ausstellung alles richten werden? Fußball ist keine autonome Sache, sondern hoch organisiert, manipuliert und festgelegt, deshalb gibt es so viele Funktionäre. Aber Kunst hat eben oft den Anspruch, frei zu sein und autonom, brasilianisch eben ... Was meinst Du, weshalb ich dorthin zurückgegangen bin? Schlicht gesagt: Da gefällt's mir besser als in Westfalen.
Johannes Stahl
Dieser Text wurde veröffentlicht in: Anstöße, Rasenkultur. Ein Gespräch. In: Ersatzbank der Gefühle. Kunstrasen 2006. Ausst. Kat. Hg. v. Holger Obermaier, Halle (Stadtmuseum) 2006, S. 23-38.