Blickbedingungen,
Schichten, Einsichten und Reflexionen
Stichworte
zu Arbeiten von Andrea Flemming
Glas
zwischen Fotografie und Spiegel
Dass
Andrea Flemming mit Glas arbeitet ist wahrscheinlich kein Zufall. Das
Material hat eine ganze Reihe Eigenschaften, die physikalisch wie
künstlerisch hoch relevant sind. Glas springt leicht, weil es unter
Spannung steht, seit das Material aus dem flüssigen Zustand in die
feste Form übergegangen ist. Glas trennt und ermöglicht
gleichzeitig als transparentes Material Ein- und Ausblicke. Es
reduziert mit dieser Eigenschaft die Anzahl der beteiligten Sinne auf
den Gesichtssinn. Zwar hat Glas selbst auch haptische Eigenschaften
(es ist glatt und fühlt sich meist kalt an), Gerüche, Geschmack
oder Geräusch isoliert es jedoch mitunter vollständig.
Probiergläser oder Doppelverglasungen beispielsweise machen sich
diese Charakteristika zunutze. Auch für den Gesichtssinn ist der
Transfer nicht völlig verlustfrei: Glas kann Strahlungen filtern, ja
sogar das Gesehene brechen. Für Kunst sind das grundlegende
Eigenschaften.
Wenn
man es technisch betrachtet, nutzt Andrea Flemming vor allem
Flachglas, wohl wissend, dass Glas als Gefäßform oder plastisches
Material eigene Traditionen kennt und andere Diskurse öffnen könnte.
Ihre Arbeiten entwickeln eher Vergleiche zum Alltag von Spiegeln,
Glaslinsen und Fenstern – und weit darüber hinaus.
Berücksichtigt
man solche Faktoren, wird es kaum verwundern, dass Andrea Flemming
die Fotografie als ein weiteres künstlerisches Ausdrucksmittel
nutzt. Im Abgleich mit dem, was der Apparat festhält, relativiert
sich der eigene Blick. Dadurch, dass jedes Foto bestimmte Ausschnitte
des Gesehenen festhält, stellen sich Rahmenfragen gleich auf
mehreren Ebenen: der grundsätzlichen Wahrnehmung eines bestimmten
Blickfelds, der Machart einer Fotografie, zu der bekanntlich mehr
gehört als nur der Druck auf den Auslöser und nicht zuletzt jenen
Fragen nach Größe und Material, in welchem der fotografische Blick
auf die Bühne des Präsentationszusammenhangs tritt. Schließlich
sind die Lichtbildnerei und das Arbeiten mit Glas allein schon
deshalb engste Verwandte, weil jegliches Arbeiten mit Glas immer auch
Arbeiten mit Licht ist. Konsequenter Weise wird man auf den
fotografischen Arbeiten Andrea Flemmings kaum auf eine
repräsentierende Abbildungsweise stoßen wie auf Passbildern,
Sportfotografie oder Urlaubsfotos. Andrea Flemmings Fotos handeln von
Bedingungen des Blicks, von Licht und von Atmosphären des Raums.
Schon
weil sie ein Bild zurückwerfen, sind Spiegel besondere Objekte. Wie
Fenster beispielsweise bieten sie Blickmöglichkeiten, aber - durch
Beschichtungen, üblicherweise der Rückseiten des Glases bedingt –
reflektieren sie das, was man sehen kann. Gleichzeitig haben Spiegel
mit Licht zu tun: neben Lampen und Fenstern verteilen sie die
Helligkeit. Vor allem ältere Spiegel büßen diese funktional
primären Eigenschaft im Laufe ihres Lebens ein. Entweder sie werden
blind oder die rückwärtigen Beschichtungen verschwinden partiell
und ermöglichen dort Durchblicke auf das, was sonst hinter dem
Spiegel verborgen bliebe. Gerade am Verschwinden dieser Schichten
setzt eine ganze Reihe von Arbeiten Andrea Flemmings an. Sie nutzt
für diese Beschichtungen die Vorderseite des Glases: Vergütungen
nennt man das in technischer Hinsicht, wobei es hier oft um die
Steuerung und Reduktion von Reflexen geht. Die Künstlerin legt mit
diesen diesen keineswegs immer fest fixierten Schichten eine für den
Betrachter erkennbare Spur an, ein handwerkliches Sediment. Ebenso
wie bei alten Spiegeln das Abblättern lässt es einen im Laufe der
Zeit sich historisch vollziehenden Prozess anschaulich werden. Solche
Momente, in denen der Spiegel die gewohnten Bahnen seiner Funktion
verlässt, sind entscheidende Ansatzpunkte für die Künstlerin:
Vielleicht übertragen Spiegel hier die Aufgabe des Reflektierens
allmählich auf ihre Betrachter.
Raum
Jedes
Bild beansprucht und bildet für sich genommen einen Raum –
ungeachtet eines illusionistischen Bildraums auf einem eventuell
vorhandenen Bildinhalt. In plastischen Bildwerken ist diese
Räumlichkeit immer eine grundlegende Komponente. Die
Allansichtigkeit, die Wechselwirkung von Skulpturen zum umgebenden
Raum, der Kontrast zwischen hochgradig definiert bearbeiteter und
materiell belassener Oberfläche: solche Diskussionsfelder befeuern
die künstlerische Diskussion der Bildhauerei seit jeher. Andrea
Flemming hat 2008 mit ihrer Arbeit „Kastenfenster“ einen Beitrag
dazu geleistet. Sie formte ein Fenster ab und verändert dessen
Funktion entscheidend. Üblicherweise schützt beim Fenster eine
Fassung aus Metall, Holz oder Kunststoff das bruchempfindliche
Material und begrenzt den oben bezeichneten Ein- und Ausblick. Das
bildet – wie der Rahmen um ein Bild - eine trennende Markierung,
die immer auch eine Bedeutung hat. Eine Ahnung von den möglichen
Perspektivwechseln bekommt man schon durch die Wendung im
Niederländischen, wo man nicht aus dem Fenster schaut, sondern „uit
de raam“. Dagegen lässt ihr Kastenfenster einen plastischen Raum
entstehen, dessen Materialität aus Bildhauergips keine Durchblicke
zulässt, sondern allein seine Herkunft, Oberfläche und
Dreidimensionalität in den Mittelpunkt stellt. Die gleiche Arbeit
kehrt sie 2011 nochmals um. Statt der Oberfläche mit ihren Spuren
der Abformung und des Materials arbeitet die Künstlerin nun
weitgehend ein schwarz glänzendes Finish aus. Es deckt die
eigentliche Materialität des Kastenfensters zu und bringt seine
plastische Präsenz in eine enge Wechselwirkung mit dem sich in der
Plastik spiegelnden Umgebungsraum. Gleichzeitig nähert sich die
schwarz polierte Oberfläche fremden Ikonografien an: der erst im
Scheinwerferlicht optisch präsent werdenden Klangquelle eines
Konzertflügels etwa, oder dem ihr alltägliches Kunststoffmaterial
nobilitierenden Hochglanzschwarz von Smartphones oder Monitoren. In
je verschiedener Weise geht es hier um Räume und Alternativen zu
ihrer Wahrnehmung. „Invertieren“ nennen
Bildverarbeitungsprogramme und Physiker eine solche Umkehrung der
optischen Vorzeichen. In ihren künstlerischen Auswirkungen auf die
Bedeutung der Formen kann sie sich potenzieren.
Ort
Blickpunkte,
Rahmenbedingungen, Lichtverhältnisse, geschichtliche
Sedimentationen: Konsequenter Weise durchzieht der Umgang mit Raum,
Ort und Situation nahezu alle Arbeiten von Andrea Flemming. Ihre
Glasarbeiten loten dabei in besonderer Weise die Eigenheiten von
Räumen aus, egal ob es sich um historische Bausubstanz handelt oder
um zeitgenössischen Zweckbau. Ihre Arbeiten spiegeln Räume und
verändern sie, untersuchen die Dimensionen von Raum und Zeit.
Transparenz und Reflektionsfähigkeit des Materials nutzt die
Künstlerin, um die grundsätzliche Disposition des Raums, aber auch
historischen und emotionalen Schichten des Orts zu befragen. Dadurch
materialisiert sie einen Dialog, der dem daran teilnehmenden
Betrachter sehr viel mehr über Orte mitzuteilen vermag, als es der
bloß analytische Blick auf räumliche oder geschichtliche
Bestimmungen allein könnte. In Kirchenräumen beispielsweise ist die
Orientierung im wörtlichen Sinne die „Ostung“ - mit allen
Implikationen, die zu diesem Begriff gehören. Andrea Flemmings
Arbeiten orientieren ihre Betrachter in mehrfachem Sinne: über den
Ort und auf seine Gegebenheiten.