Edition,
Distribution und Interaktion heute
von Johannes Stahl
(anläßlich der Ausstellung "Zirkulierende Arten" im Bonner
Kunstverein, 2000; gekürzt)
Edition
"Kunst für alle" forderten viele Künstler im Zuge der gesellschaftlichen
Beben in den 1960ern. Hohe Auflagen von zeitgenössischen Druckgrafiken
kursierten, Maler wie Warhol oder Rauschenberg wendeten den Siebdruck auch auf
die Leinwand an; Robert Indianas Bild "Love" hing in vielen Jugendzimmern
(oder zumindest Picassos Friedenstaube). Nicht nur Unikate, sondern viele gleiche
Kunstwerke wollte man schaffen. Kunst stellte man sich als expansive Gedankenbewegung
vor, ähnlich wie das sich rasch ausbreitende Feuer im Vorspann von "Bonanza".
Die Demokratisierung der Kunst war Programm: Man gab Editionen heraus, um aus
der Aura des Einzelstücks herauszutreten - und mitten hinein in das,
was man als wirkliches Leben mitgestalten wollte. In dieser Zeit wurde der Bonner
Kunstverein gegründet, im gleichen Jahrzehnt entstanden die ersten deutschen
Artotheken, die bis heute erfolgreich arbeiten, denn auch die Vermittlung von
Kunst sollte "raus aus den Elfenbeintürmen".
Daß man Kunst eher maschinell herstellte, entsprach dem technischen Zeitalter
von Fernsehboom, Pille und Mondlandung. Auch daß es eine Industrie für
das öffentliche Bewußtsein gab, wurde immer stärker Gesprächsgegenstand.
Das Bild des Fernsehers beispielsweise oder das gedruckte Massenmedium Zeitschrift
kehrt in den Bildwelten der Kunst auffallend häufig wieder. Die Wirksamkeit
der (Massen-)Medien auf das Denken und die Optik ihrer Betrachter ist bis heute
ein Thema geblieben: The medium is the message.
Distribution
Mit der Münchner "Gesellschaft für Original-Grafik", spätestens
mit Marcel Duchamps - übrigens erfolgloser - Vorstellung der
Rotoreliefs auf der Pariser Erfindermesse 1935 haben Künstler ihre Vermittlung
selbst in die Hand genommen. Im Zeitalter von aufkommenden Leihwagen, Pizza-Connections,
Versandhäusern und stark expandierendem internationalen Warenverkehr dachten
die Produzenten von Kunst über neue Wege nach. Ihre Arbeiten konzipierten
sie so, daß sie die Umgebung mitbedachten, denen sie ausgesetzt waren.
Die von Künstlern gegründete Edition MAT, die erstmals Multiples herausgab,
der VICE-Versand von Wolfgang Felisch, die schon traditionelle, seit den zwanziger
Jahren wie ein Buchring funktionierende Griffelkunst-Vereinigung, aber vor allem
die Jahresgaben der Kunstvereine: durch sie wurden Kunstwerke einfach handhabbar,
billig und bemächtigten sich der Alltagsgegenstände auch in gedanklicher
Hinsicht. Die hochaufgelegte Buchattrappe von Timm Ulrichs "dem Leser
den Rücken zukehrend" ist ein besonders sprechendes Beispiel für
diese künstlerische Wachheit.
Interaktion
Betrachter und Kunst bedingen sich gegenseitig: ohne Betrachter keine Kunst;
ohne Kunst kein Betrachter. Wie sich der Zirkel aus Ursache und Wirkung aber
jeweils schließt, ist höchst unterschiedlich. Die Interaktion zwischen
Bild und Betrachter vollzieht sich nach Mustern von Nachfrage und Angebot etwa
in Jeff Koons’ marktgerechtem Porzellanteller, dem Hase-und-Igel-Prinzip
in C.O. Paeffgens lakonischer Bemerkung "sehr schön" auf einem
Foto von Pyramiden oder gar als heftiger Eingriff in den Wahrnehmungsapparat
des Betrachters, wie ihn die Farben von Rupprecht Geigers Siebdruck auslösen.
(...) Interaktion ist nicht ausschließlich eine Sache von maschinellen
Reiz-Reaktions-Mustern und Knopfdruck-Beteiligungen, sondern findet auch im
Kopf statt.
Online auch:
http://www.artikel-editionen.com/info_text_2.php