Johannes Stahl

Stadt und Haupt
oder über die Möglichkeiten, mit zentralen Köpfen umzugehen

Daß sich der englische Begriff für Hauptstadt "Capital" vom lateinischen "caput" also dem Kopf herleitet, ist ein alter Hut. Als Begriffsfeld im Zusammenhang mit dem römischen Kapitol, dem kirchlichen Domkapitel oder dem Marxschen Kapital gesehen, bahnt sich jedoch - zumindest was den Bereich der Wortbedeutungen angeht - Unheil an. Allzuviele doch recht unterschiedliche Gegenstände siedeln im Bereich des "Haupt -!".

Das in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Deckblatt von Thomas Hobbes "Leviathan"1 hat diese zunächst rein verbale Gleichung ins Bildhafte übertragen: um auch Nichtlesende oder bildhaft Denkende von der Richtigkeit seiner absolutistischen Staatstheorie zu überzeugen, zeigt es den Staat als menschlichen Organismus. Und es ist ganz klar, wer das Haupt ist. Hier intensiv dem städtebaulichen Bild vom Kopf nachzugehen oder gar typologische Studien anzuzetteln2, ist möglicherweise zu weit gegriffen, wenn es um die zentrale Bronzeplastik für eine Stadt geht, die einmal "Karl-Marx-Stadt" hieß. Andererseits ist es wiederholt unternommen worden, diese zentrale Stadtgestaltung als Veranschaulichung sozialistischen Denkens hervorzuheben. Eine solche Prägung ist ein denkmalpflegerisches Problem und als solches eines der geschichtlichen und politischen Identität.3

Was diese Situation jedoch zusätzlich auflädt, ist die städtebauliche Situation. Entlang der Straße der Nationen ist - historische Inseln wie den Schloßplatz aussparend - jene typische Kammbebauung erfolgt, die wiederholt (in Magdeburg, Dresden oder Eisenhüttenstadt) als Errungenschaft sozialistischen Städtebaus und des dahinterstehenden Gesellschaftsbildes gefeiert wurde. Wohnen und Versorgung miteinander verzahnt - als Ansicht der Hauptstraße von Chemnitz machte die Architektur neben ihrer praktischen Funktion auch klar, wie eine staatliche Produktions- und Lebensgemeinschaft im lndustriezeitalter aussehen kann. Entsprechende Gestaltungen entstanden ­ideologieübergreifend oder vielleicht sogar ideologieeeinend ähnlich auch in Frankfurt am Main und anderswo 4.

Eigentümlich für die Karl-Marx-Städtische Situation ist jedoch das Verhältnis zwischen dem riesenhaften Kopf und der Magistrale, zwischen dem Hauptkopf und der Hauptstraße. Wie andere Plätze auch an dieser Straße dockt er an der Straße an. Als jüngstes Beispiel in dieser Folge beansprucht er gewissermaßen, das letzte und gültige Kapitel Chemnitzer Stadtgeschichte in die Geschichte zu integrieren und damit den neuen Stadtnamen auch in der durch Architektur und Städtebau sichtbaren Chronik der Stadt zu verankern. Die figürliche Lesart des Kopfes und der eigentümliche, halslose Aufbau haben gewiß auch ihre monumentale Signalwirkung nicht verfehlt. Als quasi städtebauliche Lösung einer Denkmalsaufgabe birgt sie formal einiges lnnovationspotential, wenn auch die figürliche Prägung und die politische Aussage deutlich der Entstehungszeit und ihrer historisierenden Sicht verpflichtet sind.

Die Beziehung zwischen vorgeschobener Plastik und - diese flächig einbettende - Fassaden- und Reliefgestaltung erinnert an Wirkungen zwischen Skulptur und Wandfläche, wie sie Installationen in Innenräumen vielfältig durchgespielt haben. Die formale Idee, daß eine Freiplastik in Beziehung zur Architektur hinter ihr als auch in definiertem und politischen Verhältnis zu einem zentralen Platz steht, ist als solche nicht neu. Was hier der Karl-Marx-Kopf, ist anderswo der Bremer Roland, oder eines der zahllosen Reiter- und Herrscherstandbilder vor dem Gebäude, von dem politisch Macht ausgeübt wurde. Über die politischen Unterschiede ist gewiß genügend reflektiert worden. Es lohnt, der formalen Gestaltung einmal besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zunächst ist hervorzuheben, daß Kopf und dahinterliegende Fassade formal, maßstäblich und inhaltlich eine Einheit bilden. Besonders fällt die stark betonte Frontalität ins Auge; Schrägsichten oder das Profil sind deutlich nachgeordnete Möglichkeiten. Die frontale Anlage läßt Blickrichtungen aus der Passantenebene - auf welche die Augen der Skulptur gerichtet sind - ebenso zu wie einen ferneren Betrachterstandpunkt, dem das prägnante optische Markenzeichen des Marxismus nicht fremd sein wird. Möglicherweise rühren aus diesen unterschiedlichen Distanzen auch die verschieden großen Schrifttypen her. Die Monumentalität der gesamten Anlage ist offensichtlich. Es bleibt jedoch die Frage, ob der Maßstab vom ebenfalls groß angelegten Städtebau ausgeht: dieser Gedanke läge im Vergleich zu Thomas Hobbes Titelblatt nahe. Zum zweiten ist die Kopfplastik nicht nur auf einen doppelten Sockel gestellt, sondern befindet sich überdies noch auf einer vom Niveau des Straßenpflasters abgehobenen Stufe. Auch wenn es neben der Monumentalität für diese Proportionen Gründe in der dahinter befindlichen Architektur gibt: Sockel und Stufe tragen zusätzlich und mit geradezu klassischen Mitteln zur inhaltlichen Überhöhung des Kopfes bei. Gerade in dieser Hinsicht wäre ein Vergleich mit dem - späteren und auch sonst künstlerisch rundum unglücklichen - Adenauerkopf von Hubertus von Pilgrim neben dem Bonner Kanzleramt hilfreich.

Diese Situation ist einzigartig - vielleicht, weil sie gleichermaßen gültig wie anachronistisch ist. Gerade diese Gemengelage zwischen einer sich städtebaulich artikulierenden Individualität der Anlage und der unindividuellen Formensprache im Detail des Denkmals legt sich quer zu bestehenden und auch mittlerweile bequem gewordenen Denk- und Verdrängungsmustern. Es liegt auf der Hand, daß künstlerische Interventionen am ehesten geeignet sein können, Impulse zu geben für dieses Dilemma zwischen Städtebau, Form und Idee, zwischen dem Haupt und der Stadt.

Johannes Stahl

1 Hobbes, Thomas: Leviathan; London 1651.

2 Werner Oechslin ist in seinem lesenswerten Essay "Dinokrates - Legende und Mythos megalomaner Architekturstiftung" diesem ikonographischen Topos nachgegangen. In: Daidalos 4, 1982, S. 7-26.

3Dören, Bela: Chemnitz. In: Stadtbauwelt 129, Berlin 1996, S. 704 ff.
Bodenschatz, Harald: Das Ringen um das verlorene Zentrum. In: Stadtbauwelt 129, Berlin 1996, S. 708 ff.
Seidel, Wolfgang: Innenstadt Chemnitz: Shopping-Malls oder Stadt-Rekonstruktion. In: Stadtbauwelt 129, Berlin 1996, S. 714 ff.

4 Auch für die leergeräumten Zentren der sozialistischen Städte wie Karl-Marx-Stadt, Magdeburg u.ä. wäre zu untersuchen, inwieweit nicht auch hier Ähnlichkeiten zu westdeutschen Städten vorliegen. Zu denken wäre an den jahrzehntelang bestehenden Freiraum zwischen Dom und Römer in Frankfurt/M, der erst mit der historisierenden Ostzeile wieder verschwand.