Jean Tinguely

Ein Klassiker ist er schon zu Lebzeiten geworden, der Meister aus Basel. Zu dieser Stadt, in der er die Gewerbeschule besuchte, hatte er zeitlebens eine enge Beziehung aufrechterhalten. Hier steht auch der Fastnachtsbrunnen, eines seiner wichtigsten und bekanntesten Werke. Den burlesken und ein wenig unheimlichen Basler Karneval, hat er Nichteingeweihten immer gern durch falsche Termine vorenthalten wollen. Die bunten Federn der allemannischen Narrenkostüme, aber auch der Spuk und Radau der Umzüge sowie das Fremden bizarr erscheinende Brauchtum der rhythmischen Trommeln und Pfeifen bilden gleichzeitig aber auch Motive, die in seinem künstlerischen Werk häufig wiederkehren.

In Paris hat Tinguely auch jene Arbeiten und jene Überlegungen geschaffen, die seinen anhaltenden Weltruhm begründen. 1952 in das damalige Weltkunstzentrum Paris umgezogen, steht er rasch im Konflikt zu den in jener Zeit tonangebenden informellen Malern, deren Vorgangsweise dem Schweizer zu akademisch erscheint. Er konstruiert unter dem Arbeitstitel "Metamatic" Malmaschinen, die abstrakt-expressionistische Bilder auf mechanische Weise erzeugen und entfacht damit heftige Diskussionen. Elektrisch angetriebene, sich selbst bewegende und aus Schrott zusammengeschweißte Maschinen werden zum Markenzeichen Tinguelys. Seine Arbeiten vollführen - mitunter durch bunte Federbüsche geschmückt - absurde Bewegungen und widersprechen damit der üblichen Auffassung von Maschinen. Sie dienen keinem Zweck und - wie im Beispiel der "Hommage to New York" vor dem Museum of Modern Art in New York - zerstören sich mitunter selbst.

Bewegung und Anarchie sind jene gedanklichen Prinzipien, denen sich Jean Tinguely in seiner Arbeit vor allem widmet. Explosionen und Umzüge gehören zu seinen wohlkalkulierten Spektakeln, ebenso wie das utopische Monument "La Téte", in dem Tinguely seine Kollegen aus der intensiven künstlerischen Zwiesprache im Paris der
frühen sechziger Jahre eingeladen hat. Die hausgroße und begehbare Skulptur vereint als Gemeinschaftskunstwerk viele Handschriften, unter anderem von Niki de St. Phalle, Bernhard Luginbühl, Daniel Spoerri und Yves Klein .

Eine unbändige Lust am Gestalten durchzieht vieles, was Tinguely anfaßt. Seine bunten und mit allerlei Material durchsetzten Briefe haben sich inzwischen ebenso zu Sammelobjekten entwickelt wie Plakate und Drucksachen, die er sehr sorgfältig gestaltet. Auch hier werden typische Elemente des bildenden Künstlers und Denkers
Tinguely sichtbar: die Vorliebe für den Kontrast zwischen schwarzem Grund und bunten Einzelmotiven, ein in seiner Gesamtheit verwirrendes In- Mit- und Gegeneinander verschiedener Elemente, der anarchisch geplante Ablauf von Bewegungen - und eine Vorliebe zum verspielten Kommentar, der den faszinierenden Erzähler Tinguely auszeichnet.

Als Druckgrafiker ist Tinguely wenig bekannt, weil er kein großes Oeuvre aufweist. In Arbeiten wie "Altar des westlichen Überflusses und des totalitären Merkantilismus" tritt dem Betrachter ein doch sehr anderer Zug des Schweizers entgegen: in klaren, energischen Linien entwirft er ein Gebilde, das seinen konstruktiven Aufbau betont und das mit den einer Grafik zur Verfügung stehenden Mitteln eher streng umgeht: das gehämmerte Papier und die klassische Druckkante betonen traditionelle Werte, in denen Grafik Räumlichkeit erlangt, während das gedruckte Motiv eine dunkle Zeichnung auf das Papier bringt. Der Altar, den Tinguely sich errichtet, ist Ausdruck von seiner zeitlebens aufrechterhaltenen Kritik an den saturierten Umständen seiner Gesellschaft - nicht etwa weil sie zu reich, sondern weil sie zu bewegungsarm geworden ist.

Johannes Stahl, 8/94

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