Marion Schebesta: Und immer immer wieder geht die Sonne auf ...

Manche Lautketten sind so eng mit einer Melodie verbunden, daß es schwerfällt, sie auch anders wahrzunehmen. Der beruhigende und tief im kollektiven Erinnerungsvermögen verankerte Satz birgt jedoch seine Tücken. So tröstlich die Tatsache ist, daß die Sonne immer wieder aufgeht, die stündlich wechselnden Tagesereignisse vollziehen sich unberechenbar - und damit in vollkommen anderer Weise. Zumindest in Deutschland haben sie jedoch eine allgemein gültige Form erhalten in der „Tagesschau“ des ersten deutschen Fernsehens. Die Fixierung des Sendeformats auf 20 Uhr ist ebenso ein Kult geworden (der selbst durch Fußballübertragungen kaum außer Kraft gesetzt wird) wie die Bekanntheit der Sprecherinnen und Sprecher - bei gleichzeitiger in den Medien höchst unüblicher persönlicher Anonymität.

Für den Großteil der heute in Deutschland Lebenden ist die Tagesschau zeitlebens eine Konstante. Für eine 1973 geborene Künstlerin wie Marion Schebesta wird die Wichtigkeit und Regelmäßigkeit der elektronischen Informationsveranstaltung eine feste Größe im Reigen der visuellen Ereignisse gewesen sein - möglicherweise genau deshalb, weil sie immer schon auf diesen Konflikt zwischen beruhigend konstanter Form und sich ständig ändernden Meldungen spezialisiert war und formal so überzeugend knapp und präzise die wechselnde Präsenz von Sprechenden (mit Uhr und/oder Weltkarte im Hintergrund) und die Bildberichte montierte. (Diese Festlegung einer Sendung auf einen speziellen formalen Rahmen und seine Mittel heißt im Fernsehdeutsch „Format“). Auch daß ein solcher Lauf der Bilder durch Klang oder Rhythmus bestimmt werden kann, ist bereits seit entsprechenden Wochenschauen der 40er Jahre Mediengeschichte. Technisch ähnlich waren entsprechende Bildtricks, die als „Fußballballett“ die frühen Siebziger Jahre prägten: Durch rhythmischen Vor- und Rücklauf konnten spielerische Sportredakteure in ihrem meist sehr ernsten Sendeformat kleine komische Ballettszenen erzeugen, die jeweils mit entsprechender Musik untermalt waren. Solche Eingriffe sind jedoch selten geblieben, wahrscheinlich weil die Authentizität des Bildmaterials in Informationssendungen grundlegend war.

Wenn Marion Schebesta Tagesschau-Fragmente auf der Ebene einzelner Worte mischt und daraus den Evergreen von Udo Jürgens in neue Form gießt, hat das nicht nur mit der Verfügbarkeit von Bildern und Tönen und ihrem Status als Rohmasse für neue künstlerische Manifestationen zu tun, die in der Musik Sampling heißen. Vielmehr entstehen neue Satzinhalte, die der im Computerzeitalter ohnehin maroden Gültigkeit des gesprochenen Wortes Hohn sprechen - und das besonders, wenn sie mit der inhaltlosen Botschaft von der immer aufgehenden Sonne aufwarten. „Phonetische Studie“ nennt Schebesta die Auseinandersetzung mit Mimik, Klang, Tonfall und Aussprache der Sprechenden. Die defragmentierte und neu montierte Version macht die nur scheinbare Neutralität der ehemals wichtigen Botschaften überdeutlich. Die Phonetik des Formats entpuppt sich: Ohrwürmer unter sich.

Nebenbei ergibt sich aus den montierten Bildern und Worten eine diskrete Auseinandersetzung mit geschichtlicher Zeit. In den vier Staffeln des Bandes ergibt sich eine Vielzahl zeittypischer Kleidungsaccessoires, Gesten, Bildschirmoptiken, Bühnenaufbauten, Hintergrund-Bildtypen und Klänge, die in lustvoller Weise mit der Botschaft von der immer wieder aufgehenden Sonne kollidieren. Während des Ablaufs von vier Versionen aus unterschiedlichen Jahrzehnten gibt auch das Altern der bekannten Gesichter dem sonst eher anonymen Auftritt der modernen Herolde Dagmar Berghoff und Wilhelm Wieben eine menschliche Komponente.

Marion Schebesta hat die erste Version des Materials weiter verarbeitet: eine stärker synchronisierte Fassung konfrontierte in einer Installation die einzelnen „Strophen“ auf jeweils einem Monitor als vierstimmigen Chor. Die Künstlerin sucht das am weitesten verbreitete Feld elektronischer Bilder auf: Kunstvideos haben bislang allenfalls als Nischenexistenz den Weg in Fernsehsendungen gefunden. Möglicherweise ist dafür einer der gewichtigsten Gründe das dort beheimatete Denken in „Formaten“ und der Druck, Quoten zu erwirtschaften. Schebestas bewußt einfache, fast handwerkliche Schnittechnik des Bands, die weit von der schmalzigen Prägnanz des Evergreens entfernte Wortfetzen-Sprache der Vorleser, die gegen Ende hineintönende Musik: alles das mischt sich einschmeichelnd mit dem Klärungsprozeß täglicher Medienrituale.

Johannes Stahl, 3/2001

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