Carsten Nicolai Druckgrafischen Arbeiten haften beim großen Publikum seltsamerweise immer noch geringschätzige Blicke an, auch ein halbes Jahrtausend nach Dürer, der sie mitunter höher als seine Malerei bewertet. Dies mag zum einen daran liegen, daß sich ein Bild in vervielfältigter Form präsentiert und somit nicht die Aura des Einzigartigen hat. Zum anderen liegt es gewiß an der Nähe zu Reproduktionen. Das Vorurteil, kein "Original" zu sein, sondern die billige Kopie von etwas, was anderswo authentisch ist, macht auch solchen Kunstwerken zu schaffen, die mit gutem Grund ausschließlich als Grafik denkbar sind. Carsten Nicolai verwendet in seiner Arbeit sowohl Malerei als auch Druckgrafik. In beiden Ausdrucksformen kommt seine individuelle Bildwelt zum tragen, die elementaren Motiven wie Kopf, Figur und den Dingen, die ein Schlüssel zur Welt sind, Form geben. In beiden Ausdrucksformen äußert sich, neben einer charakteristischen Handschrift, Nicolais spezielle Fähigkeit, Prozesse des Materials sensibel zu handhaben. Wie im alchimistischen Denken steht sein Malmaterial in einem technischen wie auch inhaltlichen Zusammenhang mit den Formen seiner Bildwelten. Dieses Verhältnis reflektiert dadurch auch gerade das Einwirken von symbolgeleitetem Denken. Die griechische Mythologie, deren Motive Nicolai öfters anklingen läßt, bietet ihm hier einen sowohl real in den Köpfen vorhandenen wie auch für die Geschichte von Ideen und Gefühlen wirksamen Nährgrund. Die Druckgrafik läßt eine ähnlich intensive Beziehung zwischen Motiv, Form, Material und künstlerischer Eigenwelt entstehen. Das Holz, mit dem Nicolai druckt, weist mit Maserung und Astlöchern Formen seines eigenen Wachstums auf dem Papier auf; gleichzeitig überlagern sich diese Spuren mit den knapp geschnittenen gestischen und figürlichen Motiven. Die so entstehende Wechselwirkung ist eine speziell druckgrafische: als ob das Material Holz ein zweites Leben bekäme. In dieses Gefüge bindet Nicolai häufig noch zusätzlich den Ort ein, wenn er die Ausstellungen selbst einrichtet. "Wächter" finden sich dann beispielsweise neben den Türen, universelle Bildformen in der Mitte des Raums. Die grafischen Blätter sind lose direkt auf die Wand gebracht - und damit auch ein wenig den Bewegungen der Luft und der Besucher ausgesetzt. Die üblicherweise regelmäßig im Rahmen und unter Glas präsentierte Druckgrafik wird zum aktiven Element einer räumlichen Arbeit. Die in der Artothek im Bonner Kunstverein ausleihbare Probe zum später als Auflage gedruckten Holzschnitt "Figur, Münze, Hand" aus dem Jahr 1993 verlagert ein solches räumliches Geschehen in die Ebene der Grafik. Sichtbar und nachvollziehbar mit drei einzelnen Druckstöcken auf das Papier gedruckt, treten die im Titel gennanten Motive in Erscheinung. Zwischen ihnen entwickelt sich eine formale Spannung, die von Abzug zu Abzug wechselt. Diese Spannung überträgt sich auch in das inhaltliche Geschehen zwischen Kopf, Münze und Hand, ein Geschehen, dessen Zentrum das weiße Feld zwischen handelnden Motiven ebenso sein kann wie der interpretatorische Freiraum, der dem Betrachter zwischen hoch aufgeladenen Symbolen aus der Alltagswelt bleibt. Johannes Stahl, 3/96 |