Harald Naegeli

Seit 1977 machte ein Phantom die sprichwörtlich sauberen Fassaden der Schweizer Bankenmetropole unsicher. Im Stadtraum Zürichs hinterließ es eine Vielzahl von mit meist schwarzer Sprayfarbe gezeichnete Figuren, deren Tragweite als künstlerische Konzeption den "Sprayer von Zürich" ebenso bekannt werden ließen wie sein sicherer Strich und die gewitzte Plazierung. Erst 1979 hatte die Fahndung nach dem Täter Erfolg. Harald Naegeli heißt der Mann, den 1981 nach wiederholter Tat und Flucht ins Ausland das Gericht in Abwesenheit verurteilt: "Der Angeklagte hat es verstanden, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern". Seither sind die Figuren des Sprayers an zahlreichen anderen Orten zu finden, vor allem in Köln, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt und Stuttgart.

Der mittlerweile international Gesuchte wird 1983 an der norddeutschen Grenze gefasst und 1984 - unter größten Protesten von Künstlern, Vermittlern und Politikern - an die Schweiz ausgeliefert, wo er eine Gefängnisstrafe verbüßt. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, widmet er sich seither neben seinen Graffiti verstärkt Zeichnungen, grafischen Arbeiten und politischen Anliegen wie dem Kampf gegen Tierversuche. 1987 sprüht er als Anklage gegen die Verpestung des Rheinwassers durch die Basler Chemiefirma Sandoz einen "Totentanz der Fische".

Als Zeichner und Grafiker tritt Naegeli nur zögernd an die Öffentlichkeit, obwohl er seit frühester Jugend seine Gedanken und Eindrücke regelmäßig und intensiv in Zeichnungen festgehalten hat. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit studiert er immer wieder die Arbeiten anderer Künstler, zeichnet aber vor allem anderen Studien nach der Natur.

"Ich nehme eine Bewegung wahr, und dann mache ich eine rhythmische Folge von Punkten oder Strichen. Das sind bescheidene Reflexe auf eine viel umfassendere Bewegung in der Natur. Immerhin setze ich dadurch zur vorgegebenen Bewegung eine neue, winzige, gerade erfundene oder empfundene in Fluß. (...) weiter muß man eigentlich nicht suchen. Mir genügt diese Art von Verinnerlichung. Sie ist Grundlage meines Denkens und Zeichnens" sagt er in einem Interview.

Auch in den seit 1989 einsetzenden Radierungen wie "Im Gewässer" läßt er diese Verbindung von genauestens wahrgenommener eigener Handschrift mit der Offenheit für Eindrücke seiner Außenwelt spüren. Dabei geht es ihm weder um Abbildung noch um für sich genommene Abstraktion, sondern um einen authentischen Ausdruck, der ebenso der eigenen Person wie der ihn immer wieder beschäftigenden Natur angemessen ist. Der Titel verweist auf Anregungen für das Blatt, die zeichnerischen Prozesse jedoch spielen sich auf der Fläche des Papiers ab: das mit der Radiernadel erzeugte Liniengeflecht setzt sich mit vorsichtig gesetzten Punkten, minimalen Gesten, den Freiflächen und den - oft nicht völlig kalkulierbaren - Spuren der Druckplatte zu einem selbständigen Organismus zusammen.

Johannes Stahl 2/93

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