Chung-Cheng Chow

"Habe ich Fortschritte gemacht?" Diese Frage stellte die in Bonn ansässige chinesische Malerin Chung-Cheng Chow ihrem Lehrer Willi Baumeister immer wieder - und bekam sie später vom Lehrer selbst gestellt. Das Fortschreiten ist wesentlich mehr als die bloße Verbesserung in einem Ausbildungsgang; es ist eine grundlegend existentielle Erfahrung, die sich in den Bildwelten der Chung-Cheng Chow stets wiederfindet. Eine kleine menschliche Gestalt taucht - ähnlich einer Signatur oder dem in der chinesischen Kunst üblichen Stempel - in zahlreichen ihrer Bilder auf: Sie markiert die Künstlerin selbst, in einem Verhältnis zu einer übergroßen Natur. Diese menschliche Figur ist stets in Bewegung, mit einem Wanderstab gekennzeichnet, in einem Boot - eine wörtliche Umsetzung ihres chinesischen Spitznamens "sampan"- auf dem Wasser unterwegs oder - mitunter treten an die gleiche Stelle Vögel - im Flug.

Es wäre jedoch sehr kurz gegriffen, die Bilder auf Erzählungen reduzieren zu wollen. Die Elemente malerischer Gestaltung, die in einem langen Künstlerinnenleben gereift sind, ergreifen in den Bildern Chows rasch selbst das Wort. Die Verwendung der Farbe reicht weit über das Illustrative hinaus: Grüntöne, Violett und Blau stehen für Gefühlszustände, erlebte, erfahrene oder bedachte. Die Farbe setzt Chung-Cheng Chow mit sicherem Blick für das Notwendige ein. In Ihren Ölbildern türmt sie sich mitunter pastos auf, gerade in ihren Arbeiten auf Papier läßt sie in mehrere dünn aufgetragene Schichten mit dem Licht in Wechselwirkung treten.

Ein wesentliches Element gerade der asiatischen Mal- und Zeichenkunst ist das Verhältnis zur Geste. In Chung-Cheng Chows Arbeiten auf Papier tritt diese jahrhunderte Tradition der Kalligrafie in Erscheinung. Ihre Gesten teilen sich dem Betrachter genau und mit wenig Aufwand mit: aus dem Pinsel- oder Federstrich entwickeln sich nicht nur erkennbare Dinge, sondern vor allem die materielle Spur der künstlerischen Überlegung, die der Farbe ihren Lauf vorgibt, aber auch von den Eigengesetzlichkeiten von Hand und Farbe weiß.

Es mag auch an dieser Tradition liegen, daß im Oeuvre von Chung-Cheng Chow die Arbeiten auf Papier vorherrschen. Das kleinere Format läßt eine Feinarbeit hervortreten, die im großformatigen Ölbild leicht untergehen könnte: den nuancierten Umgang mit der Wahrnehmung auf kurze Entfernung ebenso wie das serielle Element, das Chung-Cheng Chow wiederholt zu Leporellos inspiriert, Bilderbögen, die Erlebtes und Gestisches, Malerisches und Konzeptuelles zusammenbinden.

Es liegt nahe, in diesem Schwerpunkt ihrer Arbeit die Nähe zum Wort und zum Buch zu erkennen. Chung-Cheng Chow hat mehrere Bände mit Lyrik publiziert. Ihre Texte, die sie mit Bildern begleitet, schaffen einen Transfer, eine Brücke des Denkens und Empfindens zwischen ihrer Heimat China und ihrer Wahlheimat Deutschland, aber ebenso eine Verbindung zwischen ihrem eigenen künstlerischen Denken und dem Erleben des Betrachters. Die in ihren Bildern immer wieder zentrale gewaltige Natur bleibt dabei ebenso ein Bindeglied wie der zwanglos souveräne Einsatz ihrer künstlerischen Mittel.

Johannes Stahl 5/94

zurück zum
Inhaltsverzeichnis