Perspektivwechsel - Exkursionen
zu aktuellen Kunst-Orten in Nordrhein - Westfalen
Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn / Kunsthistorisches Institut
Was ist das - Rezeptionsästhetik [RÄ] ?
Katharina Röhl (Januar 2002)
Als theoretischer Begriff
ist sie ist Teilbereich allgemeiner ästhetischer Erfahrungen und wird sowohl
als Einzelphänomen, aber auch im Gesamtzusammenhang von Wahrnehmungs- und
Ästhetiktheorien betrachtet. Interdisziplinär und auch für die Kunstgeschichte
ist sie ein Beitrag zur Methodendiskussion (sowie deren Kritik u. Defizite).
Es gibt verschiedene theoretische Ansätze und innerhalb derer Schwerpunkte.
Ich möchte die Annäherung an das Thema über Begriffs- und Funktionsklärungen
versuchen.
Davor aber stellt sich die allgemeine Frage nach der Relevanz von Theorien
ästhetischer Erfahrung -z.B. für dieses Seminar. Die einfachste Antwort: das
Verstehen und Nachvollziehen von zeitgenössischer Kunst aus unterschiedlichen
Perspektiven. Das weist auf zwei unterscheidbare Richtungen:
1. die Frage nach der Perspektive von heute lebenden Künstlern in Bezug auf
ihre Umwelt / Themen
2. die Perspektive der Wahrnehmung bzw. der Rezeption von zeitgenössischer Kunst
(beide Aspekte sind Kernpunkte des Seminars und so komplex bzw. im Einzelnen
differenzierbar, daß hier nur ein grober Überblick gegeben werden kann)
RÄ verbindet beide Aspekte insofern, daß man sie als "Schnittstelle"
zwischen Werk und Betrachter ansehen kann. Ob und inwieweit diese schon
bei der Konzeption eines Werkes vom Künstler zu beachten ist (oder beachtet
werden kann), lasse ich an dieser Stelle offen. Die Schnittstelle von Werk und
Betrachter markiert das Anliegen des Seminars in zweifacher Hinsicht:
1. die Grenzziehung zwischen ‚Produzent' und ‚Rezipient' ist in dem Maße unklarer
geworden, wie die Grenzen von Kunst und "Wirklichkeit" mit vielen Formen zeitgenössischer
Kunst zunehmend in Frage gestellt werden
2. weil der versuchte "Perspektivwechsel" an sich "Grenzschiebung" evoziert
und ist
Einführung in die Theorie:
Der rezeptionsästhetische Zugang ist für die Kunstgeschichte eine relativ junge
wissenschaftliche Strategie, die ihre Vorläufer in den Analysemethoden der Literaturwissenschaft
hat. (Entwürfe: Anfang der 70er Jahre - u.a. H.R.Jauss und die Konstanzer Schule,
anknüpfend an den Prager Strukturalismus)
Sie ließ sich interdisziplinär übertragen, weil sich Literatur- wie auch Kunstwissenschaften
gleichermaßen auf dem Betrachten von Einzelwerken und auf historische Zusammenhänge
bezieht, an denen die drei Instanzen Künstler, Werk und Publikum beteiligt
sind.
Ein Paradigmenwechsel (neuer methodischer Ansatz) findet insofern statt, daß
der Rezipient zur zentralen Figur der ästhetischen Ereignisse wird -
er spielt eine aktive Rolle bei der Konstituierung des Sinns der Werke. Der
Gegensatz zur reinen Produktions- oder Darstellungsästhetik besteht grundsätzlich
darin, das Kunstwerk nicht mehr unabhängig von seiner Aufnahme zu bestimmen
und ein dialogisches Verhältnis zwischen Produzenten, Werken und Betrachtern
anzunehmen (auch Auftraggeber > öffentlicher Raum).
Damit ist ein Kommunikationsverhältnis innerhalb der Kunst definiert,
das weit über eine lineare Dimension zB. als bloßes Zeichen- und Symbolsystem
(Semiotik) hinausreicht. Zeichen sind dabei aber das Medium der Kommunikation
– mögliche Unterscheidung: linguistische (bestimmt) < > ästhetische (unbestimmt)
Zeichen.
Die Charakterisierung ästhetischer Zeichen setzt ihrerseits Kommunikation und
Rezeption voraus. Die Funktion von Zeichen ist das Mitteilen,
– mögliche Unterscheidung: konkrete Mitteilung < > "Verneinung" einer konkreten
Mitteilung.
Das Mitteilungsangebot muß von Rezipienten gedeutet (konkretisiert, umgesetzt) werden. Aus der Unbestimmtheit ästhetischer Zeichen resultiert die Möglichkeit unterschiedlichster Konkretisierungen. Erst der Rezipient mit seiner ästhetischen Erfahrung konstituiert das Werk endgültig und jeweils einzigartig [Aufwertung der Rezeption im Verhältnis Künstler -Werk - Betrachter].
RÄ (auch Rezeptionsforschung)
bezieht sich auf die Strukturen (und deren Entwicklung), die die Aufnahme und
den Umgang mit Kunst bedingen. Zwei wesentliche Aspekte dabei sind Kontexte
und der Werkbegriff [Was sehen wir als Kunstwerk an ?].
Der Werkbegriff ist heute enger denn je an die Funktionsbestimmung von Kunst
gebunden. Er ist komplex und problematisch zugleich, wenn damit die Grenzen
von Kunst und Wirklichkeit thematisiert werden [> zunehmend offene Struktur
zeitgenössischer Kunstwerke]. Von ihm hängt es ab, welchen Erwartungs- und
Erfahrungshorizont [Kontexte] ein aktueller Rezipient zur Konstitution eines
Werkes aufzubieten hat.
Die Erfahrungsbereiche von Rezipienten sind subjektiv. So wissen wir, daß ein
und dieselbe Realität, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, verschiedenen
Sinn haben kann.
Daraus leitet sich die Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit
ab. Kunstwerke als Übertragungen von Sinnwelten einer von uns angenommenen Realität
[z.B. "Abbildungen" oder imaginierte (auch simulierte) Möglichkeiten] teilen
uns etwas über die Lebenswirklichkeit mit. Ihre Funktion besteht in der "imaginären
Bewältigung defizitärer Realität" [einem Problem mit Phantasie begegnen]
- oder zumindest in deren Versuch.1
Die spezifische kulturelle (gesellschaftliche) Leistung ästhetischer Erfahrung beginnt dort, wo sie verfestigte Horizonte und dogmatische Legitimationen transparent macht, immer wieder Kommunikation in Gang setzt und Erwartungen eröffnet. Aber auch die ästhetische Erfahrung von Rezipienten verändert sich innerhalb und durch diese Schnittstelle stets aufs Neue.
RÄ als Theorie dient uns also als Methode (als Schlüssel) zum Verständnis dieses Zusammenhangs.
Anhang Begriffe:
linguistische (sprachliche)Zeichen | ästhetische Zeichen |
[Ferdinand de Saussure] | [Jan Mukarovsky] |
eindeutige Zeichen - Bedeutung - Relation: | unbestimmte Zeichen - Bedeutung - Relation: |
Das linguistische Zeichen ist durch seine konventionalisierte, eindeutige kommunikative Bestimmtheit ausgezeichnet; es thematisiert eine Bedeutung. | Das ästhetische Zeichen ist durch seine relative kommunikative Unbestimmtheit ausgezeichnet (Bedeutungsebene nicht eindeutig); es thematisiert sich primär selbst (tendenziell autoreflexiv). |
Der sprachliche Konventionsrahmen kann gesprengt werden, deshalb ist das ästhetischen Zeichen auf außersprachliche Konventionen angewiesen, die der Betrachter an das Werk heran trägt. |
Werkbegriff: Etliche Kunstwerke lassen sich überhaupt nur noch unter der Prämisse eines erweiterten Werkbegriffs als solche verstehen (als "Anteil des Betrachters"2). Die Tendenz zu seiner Ausweitung scheint paradox, denn sie wirft die Frage auf, ob die Erweiterung nicht dazu führt, daß das Werk keine (oder nur noch willkürliche) Grenzen besitzt. Das führt im Grunde zu seiner Selbstauflösung, weil nicht mehr problemlos anzugeben wäre, welche Aspekte noch als zum Werk gehörig angesehen werden sollen und welche "realen" Handlungen / Ereignisse nicht mehr. Längst gibt es in der künstlerischen Praxis Ausdrucksformen, bei denen eine phänomenologische (sichtbare) Differenz zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit nicht mehr erkennbar ist und deren Gehalt artifiziell aufgebaut wird, indem die bloße "ästhetische Einstellung" bzw. die Erwartung seitens des Betrachters vorausgesetzt wird, um Kunst als solche zu bestimmen. Um den Werkbegriff aufrecht zu erhalten und die Unterscheidbarkeit von Kunst und Wirklichkeit zu markieren, spricht man in der Theorie von "Kontextabhängigkeit".
Kontext: hier als auf den Betrachter bezogenes, umfassend codierendes Wertsystem (historisch, kulturgeschichtlich, gesellschaftlich, etc.) verstanden, das beeinflußt und in die Konkretisierung eingebracht wird.
1 vgl. Iser 1975, in: Stöhr,
1993
2 vgl. dazu: Stöhr, Imdahl, Kemp
Literatur: