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Raum für eigene Eintragungen
Das eine Zimmer
In der ihm eigenen überlegt-zögernden Erzählweise rankt
Jurek Becker eine kurze Geschichte um ein junges Paar und sein Bemühen
um Wohnraum. Es gelingt den beiden Liebenden, in ihren Anträgen auf
eine eigene Wohnung beim Amt von Mal zu Mal einen Raum weniger bewilligt
zu bekommen, bis das Vorhaben letztlich völlig scheitert1. Der Grund
dafür ist das "Probierzimmer", ein Raum, an dem das Paar
auch unter Verzicht auf Küche, Schlafzimmer, und ähnlich notwendigem
hartnäckig festhält. Es ist fast überflüssig zu erwähnen,
daß bei bewirtschaftetem Wohnraum freie Funktionen nicht vorgesehen
sind, eben weil sie keine wirtschaftliche Funktion aufweisen. Werbung: Freiraum
Daraus nun aber zu folgern, daß Wirtschaft und Freiräume
rein überhaupt nichts miteinander zu tun haben, wäre übereilt.
Gerade in der Werbung, einem für das Prinzip der freien Marktwirtschaft
überaus wichtigen und hochsignifikanten Bereich spielen Freiräume
eine entscheidende Rolle - und das in praktischer wie theoretischer Hinsicht.
Kein geringerer als Joseph Beuys hat in ebenso gebrochener wie gültiger
Weise jene Konflikte in Gang setzen können, die sich da ergeben. 1983
erschien in einer Ausstellung der Galerie Klein, aber auch auf Postkarten
der von Beuys mitunterzeichnete sibyllinische Satz seines Schülers
Jonas Hafner "Ob Werbung Kunst ist, hängt davon ab, wofür
sie wirbt". Möglicherweise hat der Meister mit dieser semantischen
Brechung die Unklarheit über seine eigene Position vergrößert
- und gleichzeitig einen didaktischen Kunstgriff vorgeführt. Dagegen
lieferte er 1984 für die große Ausstellung "von hier aus"
ein Paradebeispiel für werbliche Freiräume. Auf großen
und überall präsenten Plakaten prangten in der Bildmitte seine
handschriftlichen Worte "von hier aus". Diese Gestaltung lockte
nicht nur tausende von Besuchern in die Düsseldorfer Messehallen,
sondern auch Ergänzungen aller Art von anderer Hand auf die Werbetafeln.
Das, was Lay-Out-Lehrer "gestaltete Freiflächen" nennen,
füllte sich mit Zusätzen, die diese Freiflächen störten,
ein möglicherweise so überhaupt nicht beabsichtigtes kommunikatives
Konzept ging auf. Das werbliche Mittel ist nicht neu, funktioniert aber
nach wie vor gut, wenn sich die professionellen Werber gegenüber ihren
für die genutzte Fläche zahlenden Auftraggebern mit dem Wunsch
nach gestalterischen Freiräumen durchzusetzen vermögen. In der
immer stärker um Randgruppensicherung bemühte Tabakbranche räumte
während der Entstehung dieses Essays eine Großflächenwerbung
die Hälfte dem "Raum für Notizen" ein, lediglich der
Rest der Fläche zeigte die nunmehr aus zahlreichen - mitunter auch
geistreichen - Wiederholungen bekannte Zigarettenpackung. Freiraum in Schreibflächen,
der sprichwörtliche "Raum für eigene Eintragungen"
ist nicht selten eine buchbinderische Notwendigkeit: hinter dem großzügig
zur Verfügung stehenden Papier verbergen sich technische Produktionsbedingungen
und damit schlußendlich wirtschaftliche Überlegungen. Die oft
zahlreich dem Buchbeginn vorangestellten Vakat-Seiten verbinden diese Impulse
mit einem repräsentativen Prinzip: bevor der kostbare Inhalt des Druckwerks
sich öffnet, signalisieren leere und sparsam bedruckte Seiten - in
dieser Funktion einer barocken Zimmerflucht ähnlich - die Bedeutung
des nun folgenden. Daß sich dieses Phänomen auf Kleindrucksachen
wie Geburts- und Todesanzeigen, Einladungskarten zu Ausstellungen und Konzerten
sowie Visitenkarten wiederholt, wird ähnlichen Gründen folgen.
Raum zeigen oder Platz sparen Solcherart ausufernde Repräsentationsgelüste
zu unterlaufen, bietet sich geradezu an: wo besonders sinn- und hemmungslos
Papier verbraucht wird, wirkt im Gegenzug der rationale Sparkurs individuell
und prägnant. Auch die nobilitierenden Ordnungssysteme, das sogenannte
gute Lay-Out mit zentrierter oder linksbündiger Schrift und gemäß
der Bedeutung des einzelnen Wortes, der einzelnen Zeile ausgeglichen Abständen,
kann ähnlich gekontert werden. Chaotische Handarbeit ist im Zeitalter
allseitig verfügbarer Druck- und Lay-Out-Möglichkeiten wirkungsvoll,
der mutwillige Verzicht auf "gestaltete Freiflächen" signalisiert
möglicherweise einen dichteren Bezug zu gesellschaftlichen Realitäten
(Ökonomie, Rohstoffknappheit) und Notwendigkeiten (Kommunikation statt
Repräsentation). Auch in zunächst unüblichen Wirtschaftsabläufen
wie Last-Minute-Angeboten für Flugreisen oder dem Versandhandel für
Computer werden diese Werbeargumente immer wieder gerne genutzt. Es bliebe
einer kulturgeschichtlich kompetenten Perspektive vorbehalten, auf solche
Gedanken hin Phänomene wie die auffällige Randausnutzung der
Bauhaustypografie, die kleinlettrig gesetzten Reclam- und Taschenbuchausgaben
und nicht zuletzt das sprichwörtlich gewordene "Kleingedruckte"
zu befragen. Ressourcen Gerade angesichts des wachsenden Bewußtseins
über die knappen Holz- und damit Papierreserven werden weniger materialgebundene
Speichersysteme gerne gelobt. Mikrofilm oder Computerspeicher, die beide
Papier sparen helfen sollen, das Faxgerät, das nach telefonischer
Absprache schnell glasklare Verträge ermöglicht, der durch digitalen
Zugriff endlich handhabbare akkustische oder optische Informationsspeicher
Cassette oder CD - sie alle leben von den riesenhaften Reserven, die sie
anbieten und die als Papierstapel entweder unhandlich oder gar unmöglich
wären. Diese Argumentationen - so verlockend sie für oder durch
mehr Information die Zukunft machen - setzen voraus, daß diese Speicher
einerseits handhabbar sind, andererseits, daß auch tatsächlich
der begründete Wunsch nach solchen Freiräumen besteht ... Kadenza
In der Musikgeschichte haben die Festlegungen von Freiräumen eine
eigenartige Komponente erfahren. Bestand früher wie auch in anderen
Bereichen der Informationsvermittlung die einzige Möglichkeit in mündlicher
Überlieferung, so entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Notation,
die musikalische Vorgänge festhalten konnte. Eigenartigerweise bedarf
Musik jedoch immer der Aufführung, das heißt, sie muß
nach bestehenden Noten gespielt werden und auch der stumm lesende Partiturliterat
summt in der Regel innerlich die gelesenen Melodien. Mit dieser Festlegung
auf die Aufführung von Musik sind Interpretationsfreiräume notwendig;
die Virtuosität des Aufführenden ist immer Bestandteil der Musik.
Konsequenterweise tragen manche Komponisten diesem Faktor Rechnung: "Kadenza"
schreiben sie an bestimmte Stellen gegen Ende der Partitur. Der Interpret
kann und soll seiner eigenen Ausformung des vorgegebenen harmonischen Gerüsts
Raum lassen und kann es in improvisierter Virtuosität vollenden. Daß
sich diese Soli in der Kammermusik und später im Jazz eine ganze Kultur
von improvisierter oder nur in groben Zügen vereinbarter Musik wiedereinsetzt,
gehört zu den Besonderheiten dieses Ausdrucksmittels. Für den
hier verfolgten Zusammenhang von Vorgabe und Freiraum ist bemerkenswert,
wie unterschiedlich zeitlich gedehnt und inhaltlich festgelegt diese Gelegenheiten
des eigenen Beitrags sind. Vor allem aber: die Form des Freiraums ist durch
die Form des vorgegebenen Raums bestimmt, die feste Form kann jedoch ohne
Freiräume überhaupt nicht existieren. * * *
Ein ähnliches
Wechselspiel gilt möglicherweise auch für den gedanklichen Verlauf
dieses Essays. Gedankliche Freiräume zu nutzen ist nur möglich
unter Bezugnahme auf vorhandene Gedankengebilde, Sprachregeln, literarische
Konventionen und die Vorgaben des zur Verfügung gestellten Umfangs,
oder: "Jedes Ding ist, gleichsam, in einem Raume möglicher Sachverhalte.
Diesen Raum kann ich mir leer denken, nicht aber das Ding ohne den Raum."
2 Installationen Wenn man innerhalb der bildenden Künste vom gebräuchlichen
Wortsinn für Raum ausgeht, erstreckt sich seine Verwendung neben der
Architektur besonders auf die Plastik. Es ist sinnvoll, in diesem Bereich
das Augenmerk auf ein typisches Phänomen der letzten beiden Jahrzehnte
zu richten, das in vielerlei Hinsicht mit Freiräumen zu tun hat: die
Installation. Eine lexikalische Herleitung führt nicht weit: fachmännisches
Einsetzen und Warten von Leitungen aller Art bietet zunächst keine
Perspektive für eine künstlerische Technik, und auch die Einsetzung
in ein (kirchliches) Amt hat wenig mit der prägnantesten Kunstform
der siebziger und achtziger Jahre zu tun. Auffallend jedoch, wenn man nur
das Medium betrachtet, ist eine Mittlerstellung: Installationen sind als
bildnerische Ausdrucksform verbindbar mit fast allen bis dato üblichen
Techniken, ob Foto, Malerei, Video, Skuptur oder Architektur. Dabei ist
diese nicht einmal genau definierbare raumbezogene Kunst höchst indifferent
gegenüber dem jeweiligen theoretischen Niveau: die concept art hat
sich der Installation ebenso bedient wie die handfest objektbezogene Kunst
am Bau oder verschiedene Künste zusammenbindende Gesamtkonzepte. Zunächst
hat jede Installation einen Bezug zu dem Raum, den sie füllt. Diesen
Bezug jedoch setzt sie jeweils individuell um. Sie kann sich fest an die
Architektur binden und diese ebenso zum Thema machen wie außer Kraft
setzen oder überspielen. Eine solche Arbeit geht mit der Entfernung
aus dem angestammten Umraum zugrunde. Eine Installation kann im Gegenzug
aber auch eine eher skulpturale Position einehmen, transportierbar sein.
Zum jeweiligen Umraum nimmt sie auch dann einen stets von diesem abhängigen
Standpunkt ein, aber erst in der Summe dieser verschiedenen Auseinandersetzungen
mit Räumen findet sie ihre eigene Aussage. Damit ist die Installation
nur als inszenierte und inszenierende Ausdrucksform angerissen, ihre Wirkungsweise
erstreckt sich jedoch vor allem in den Bereich des Betrachters hinein -
zum künstlerischen Ausdrucksmittel gehört die Art, wie der Betrachter
Eindrücke gewinnt. Raumbezogene Arbeiten lassen sich schlecht fotografieren.
Der Eindruck, den ein inszenierter Raum auf einen Betrachter macht, kann
man nicht zuletzt deshalb schlecht wiedergeben, weil er von den Handlungen
der Betrachter selbst abhängt. Auch wenn es räumliche Bilder
gibt, die einen bestimmten Betrachterstandpunkt festlegen, ist die Möglichkeit
sich frei und zeitlich unbestimmt zu bewegen ein häufiges und wichtiges
Moment für Installationen. Damit delegiert der Installationskünstler
das "vollständige Machen der Kunstwerke" im Sinne Duchamps
nicht nur an die Gedanken der Betrachter, sondern auch deren Handlungen
im Raum. Diese stehen zwar in Verbindung mit dem gedanklichen Prozeß,
die Interaktivität akkustischer, olfaktorischer, haptischer und visueller
Raumerlebnisse beansprucht jedoch oft einen recht starken Eigenwert, der
die gedankliche Durchdringung zweitrangig macht. Das Unbehagen am Ort Es
sei hier einmal behauptet: die Vielzahl raumbezogener oder raumgebundener
Arbeiten, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren auftrat, nährt
sich aus einem Unbehagen, das viele Wurzeln hat. Einerseits begünstigte
das seit den späten sechziger Jahren geschärfte Bewußtsein
für gesellschaftliche Machtstrukturen diese Kunstform. So unterschiedliche
Phänomene wie Raumbesetzungen oder auch die bewußtere Inszenierung
des eigenen Wohnumfelds von der puristischen Obstkistenästhetik bis
zur schöner-Wohnen-Welle stehen damit im Zusammenhang. Beides ist
als Impuls in Material und Inszenierungsideen vieler Installationen mit
nahezu ikonographischer Hartnäckigkeit wiederzufinden. Andererseits
stellte und stellt die raumbezogene Arbeit eine vormals gebrochene und
danach dringend gewordene Verbindung her zwischen dem Aussehen des Orts
und den Konzeptionen, die an oder in ihm entwickelt werden. Eine gedankliche,
gesellschaftliche und oft auch formale Utopie - wörtlich ja der "Nicht-Ort"
- läßt sich ausgerechnet in den raumbezogenen Arbeiten als ursprünglicher
Impuls und Wesensmerkmal festmachen. Installationen: Fluchtpunkte Installationen
werden in den neunziger Jahren möglicherweise wieder abnehmen - schon
aus dem einfachen Grund, weil sie als schlecht vermarktbare Kunstform in
den Strudel der wirtschftlichen Rezession gerissen werden. Sie teilen jedoch
mit anderen irgendwann neu entstandenen Ausdruckformen eine Auswirkung
auf die nachfolgende Kunst: die gestalterischen, medialen, theoretischen
und sozialen Erkenntnisse, die sie geöffnet haben, bleiben als Faktor
bestehen. Konkret: aus den in der Kunstform Installation erschlossenen
Freiräumen entwickeln sich Aufgaben. Sehr unterschiedliche Wirkungen
sind möglich. Die Idee von der Installation könnte sich als immer
mitbedenkbarer Raumbezug zu einem Standard entwickeln wie die konzeptuelle
Komponente oder die Idee der sozialen Plastik, Größen, ohne
die die Kunst unseres Jahrhunderts nicht zu denken ist. Raumbezogene Arbeiten
können aber auch als mehr oder minder technisch bestimmte Möglichkeit
das Spektrum künstlerischer Ausdruckformen bereichern, die schlimmstenfalls
als Lernziel die Ausbildung von Künstlern begleitet. Nicht zuletzt
könnten Installationen als kunsthistorisch belegte Form zu einem ungeliebten
Muß in Museumssammlungen werden - wie etwa Fotos oder Videos. Nachsatz
Natürlich: nicht nur im Bereich der Bildenden Kunst lauern die Gefahren,
daß sich in nahezu regelhafter Weise ursprüngliche Freiräume
zu Funktionsräumen wandeln und schließlich zu Zwangskammern
oder gar Gummizellen verkommen. Das Problem der Freiräume ist ein
Problem der Köpfe. Ein wenig von dieser Fragestellung findet sich
eigenartigerweise in der zweigeteilten etymologischen Wurzel des Worts
wieder: Raum ist der "Platz zu freier Bewegung", aber auch das,
"was wegzuräumen ist". 3 Freiräume scheinen Faktum,
Utopie und Ressource in einem zu sein.1 Jurek Becker: Das eine Zimmer.
In: Nach der ersten Zukunft. Frankfurt/M 1984, S.227-239. 2 Ludwig Wittgenstein:
Tractatus logico-philosophicus. 2.013. Frankfurt/M 1963, S. 13. 3 Etymologisches
Lexikon des Deutschen, hrg. v. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft.
Bd. Q-Z. Berlin 1989, S. 1381.
Text aus: "Translokationen. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur", © 1994 Triton-Verlag Wien, herausgegeben von Marc Mer
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