Lena Fritsch; 18.11. 2003

John Cage

1. Einleitung
Dieses Referat setzt sich schwerpunktmäßig mit dem Phänomen der Interaktivität in Cages Werken auseinander: Welche Rolle spielt der Zuhörer/Betrachter? In welchem Verhältnis stehen Musik und Musiker? Wie ist die Beziehung zwischen Musik und bildender Kunst zu verstehen?

2. Biographie
-15. September 1912: geboren als Sohn eines technischen Erfinders in Los Angeles
- Anfang der 1930er Jahre: strebt zunächst Karriere als Geistlicher, dann die eines Dichters an, nimmt Klavierunterricht, malt und komponiert erste Musikstücke
- 1934: wird vom Komponisten Arnold Schönberg als Schüler aufgenommen, verspricht diesem „sein Leben der Musik zu widmen“, heiratet Xenia A. Kashevaroff, finanzielle Schwierigkeiten
- 1938: erhält Lehrauftrag in Seattle, komponiert erstes Stück für präpariertes Klavier
- 1942: zieht nach New York, wo er u.a. bei Max Ernst wohnt, trennt sich von Xenia, um mit dem Tänzer Merce Cunningham zusammenzuleben, komponiert Music for Marcel Duchamp
- 1948: nimmt Lehrtätigkeit am Black Mountain College in North Carolina an
- Ende der 1940er Jahre/Anfang der 1950er Jahre: lernt durch Vorlesungen des japanischen Zen-Meisters Suzuki Daisetzu die Lehre des Zen-Buddhismus kennen, beginnt sich für zufällig entstehende Klänge zu interessieren, komponiert Music of Changes, Imaginary Landscape 4, sowie Water Music und Williams Mix
-1952: komponiert 4‘33“, ist am „ersten Happening der Geschichte“ beteiligt
-1954: zieht mit Freunden in eine „anarchistisch-pazifistische Kooperative“
-1958: Retrospektive über 25 Jahre seines Komponierens in New York, Uraufführung des Concert for Piano and Orchestra, komponiert Fontana Mix und Variations 1
-1962: gründet New Yorker Pilzforschende Gesellschaft, Konzertreise durch Japan
-1963: leitet erste vollständige Aufführung der Vexations von Eric Satie
-1969: erhält Thorne-Musikstipendium, Plexigramm Multiple Not Wanting to Say Anything about Marcel
- Seit den 1970er Jahren: Ehrungen und Aufführungen nehmen stark zu
-1977: beginnt mit makrobiotischer Diät, die seinen gesundheitlichen Zustand verbessert
-1982: weltweit Feiern, Konzerte und Ausstellungen zu Ehren von Cages 70. Geburtstag
-1987: Oper Europeras 1 & 2 wird uraufgeführt
-1992: stirbt kurz vor seinem 80. Geburtstag in New York an einem Schlaganfall

3. Interaktivität in Cages Werken
3.1.1 4‘33 (1952)
-Uraufführung in Woodstock: Der Pianist trat herein, schloss den Klavierdeckel, setzte sich schweigend an das Klavier und wartete. Die Unterteilung des Werkes in drei Sätze zeigte er stumm durch Armbewegungen an.
- ‚Stille‘ bezeichnet Gesamtheit der von Cage nicht vorherzusehenden Töne
- Zufall als Mittel, um auf die Nicht-Existenz von Stille hinzuweisen und Geräusche entstehen zu lassen, die vom Komponisten nicht kontrolliert werden können (Wind, Regen, Gemurmel anderer Publikumsmitglieder etc.), Verwendung des altchinesischen Orakels I-Ging
-Anlässe für 4‘33“
1. Cages Erfahrung im echofreien Raum: „Es gibt keine Stille, die nicht klangträchtig ist“
2. Rezeption zen-buddhistischen Denkens: Jedem Klang wird erlaubt, Zentrum der Schöpfung zu sein; innere Ruhe als Voraussetzung, um sich vom Leiden im buddhistischen Sinne zu erlösen; Stille und Klang nicht als zwei sich widersprechende, gegensätzliche Phänomene, sondern als voneinander unabhängige Elemente, die sich doch „ständig in unvorhersehbarer Weise gegenseitig beeinflussen“
3. black paintings und white paintings von Robert Rauschenberg:„Eine Leinwand ist nie leer.“

3.1.2 Interaktivität in 4‘33“
- Cage überträgt dem Zufall und somit auch dem Publikum die Möglichkeit, Hörbares zu schaffen
- Differenz zwischen Musiker und Zuhörer sowie Komponist und Zufall wird aufgehoben.
- jeder Konzertbesucher wird unweigerlich Teil von 4‘33“
- Einbeziehung des I-Ging, Einfluss der Zen-Philosophie sowie der ostasiatischen Musikauffassung

3.2.1 Variations 1 (1958)
- Variations 1 als Anfang von Cages experimentellen Musikstücken, die hinsichtlich ihrer Aufführung unbestimmt sind, Unvorhersehbarkeit (indeterminacy) des musikalischen Materials
- Anweisungen können unterschiedlichste musikalische Resultate hervorbringen und gewähren dem Musiker ein höchstmögliches Maß an Individualität (aber keine Beliebigkeit!)
- Notation der Variations 1 besteht aus sechs numerierten Transparentfolien: fünf Folien mit jeweils unterschiedliche Konstellationen von geraden Linien, die sechste Folie ist voller Punkte -> lange genaue Vorbereitung des Musikers, um Frequenz, Tondauer etc. zu bestimmen; kreative Arbeit beginnt erst nach der Aufschlüsselung des Werkes
3.2.2 Interaktivität in Variations 1
-Werk als Rahmen, der unterschiedlich gelesen werden kann und innerhalb dessen der Interpret frei verfahren darf
- neue Beziehung zwischen Musiker und Komponist
- wechselseitiges Verhältnis von Musik und Graphik, Partitur als graphisches Blatt: „Man hört auch mit den Augen.“

3.3.1 Not Wanting to Say Anything about Marcel (1969)
- Plexigramm Multiple gemeinsam mit Calvin Sumsion als Hommage an Marcel Duchamp
- jedes Plexigramm besteht aus acht Scheiben Plexiglas, auf denen Buchstaben und Wortfragmente gedruckt sind, und die parallel hintereinander geschichtet wurden
- Wortteile wurden durch Zufallsoperationen ausgewählt und in verschiedenen Schriftarten gedruckt (Cage sieht den Zufall als seinen individuellen Vorlieben überlegen an)
- Interpretation des Werkes wird völlig offen gelassen
3.3.2 Interaktivität in Not Wanting to Say Anything about Marcel
- Zusammenarbeit von Cage und Sumsion als Interaktion zwischen Künstlern
- Beziehung zwischen Duchamp und Cage
- Durch Verwendung von Wortfragmenten und einzelnen Buchstaben bezieht das Werk den Betrachter stark ein: Die Betonung des Bruchstückhaften, das vom Betrachter unwillkürlich zu ergänzen ist, erfordert dessen aktive Partizipation am Kunstwerk

4. Schluss
- Zuhörer als Mitschöpfer von 4‘33“ und von Not Wanting to Say Anything about Marcel
- Vermittlung neuer Hörerfahrungen: 4‘33“ und Variations 1 repräsentieren Cages Aufforderung an die Hörer, vorbehaltlos jeden Klang wahrzunehmen
- Variations 1 repräsentiert Phänomen der Unvorhersehbarkeit des musikalischen Materials
- wechselseitiges Verhältnis von Musik und Graphik, Cage hebt Grenzen zwischen Partitur und graphischem Kunstwerk auf
- Einfluss des I-Ging, der Zen-Philosophie sowie der ostasiatischen Musikauffassung allgemein (Kritik an Fehlinterpretation des I-Ging)
- Cages Leistungen als wichtiger Schritt zu einem erweiterten und komplexeren Musikverständnis
- keine Trennung zwischen Natur und Kunst sowie zwischen den einzelnen Künsten


Literaturverzeichnis
CAGE, John und Daniel CHARLES (1984): Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles. Berlin: Merve
KOSTELANETZ, Richard (Hg.) (1970): John Cage. New York und Washington: Praeger Publishers
KÖSTERKE, Doris (1996): Kunst als Zeitkritik und Lebensmodell. Aspekte des musikalischen Denkens bei John Cage (1912 - 1992). Theorie und Forschung, Bd. 406, Musikwissenschaften, Bd. 4. Regensburg: S. Roderer Verlag
METZGER, Heinz-Klaus und Rainer RIEHN (Hg.) (1978): John Cage. Musik-Konzepte, Sonderband. München: Edition Text und Kritik GmbH
METZGER, Heinz-Klaus und Rainer RIEHN (Hg.) (1990): John Cage II. Musik-Konzepte, Sonderband. München: Edition Text und Kritik GmbH
PERLOFF, Marjorie: A duchamp unto my self: Writing through Marcel. In: PERLOFF, Marjorie und Charles JUNKERMAN (Hg.) (1994): John Cage. Composed in America. Chigaco und London: The University of Chicago Press
REVILL, David (1992): Tosende Stille. Eine John-Cage-Biographie. Übersetzt von Hanns Thenhors-Esch. München und Leipzig: List Verlag
ROSE, Barbara (1970): [Not Wanting to Say...]. In: KOSTELANETZ, Richard (Hg.): John Cage. New York und Washington: Praeger Publishers, S. 187 - 189
SCHMIDT, Felix (17. 08. 1984): Großmeister der musikalischen Provokation: Der Komponist John Cage. In: Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 233, S. 10 - 14
UTZ, Christian (2002): Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun. Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 51. Stuttgart: Franz Steiner Verlag
WESTDEUTSCHER RUNDFUNK KÖLN (Hg.) (1987): NACHTCAGETAG. Vierundzwanzig Stunden für und mit John Cage. Musik und Hörspiel. 14./15. Februar 1987. Köln: DuMont
WÜRTENBERGER, Franzsepp (Hg.) (1979): Malerei und Musik: Die Geschichte des Verhaltens zweier Künste zueinander. Galerie, Bd. 1. Frankfurt: Verlag Peter Lang GmbH