Johannes Stahl

Nach Art des Hauses

Was man von geliehenen Bildern erwartet

Oft über Jahre hinweg leihen sich Menschen Kunstwerke in einer Artothek aus. Die folgenden Betrachtungen fußen nicht auf Statistiken, sondern auf Gesprächen und Beobachtungen, wie sie gerade im Kontakt mit diesem weitgehend nicht vorgebildeten Publikum entstehen. Die Frage, was Menschen von Kunst erwarten, taucht in der umfangreichen Kunstliteratur bislang eher selten auf. Das mag zum einen daran liegen, daß bildende Kunst nicht als Bedürfnisbefriedigung produziert wird – wie das Fernsehen etwa -, zum anderen daran, daß die Eigenheiten von Kunst schon selbst gehörig faszinieren – und dabei durch Beschreibungen so recht gar nicht erfasst werden können.

Veränderung

Natürlich weckt diese Unauslotbarbeit von Kunst auch selbst Erwartungen. Und so gehört zu den am meisten verbreiteten Wünschen, daß Kunst eben immer auch Alternativen zu dem bereit hält, was man eigentlich von ihr will. Kunst soll geradezu immer etwas mehr und etwas anderes dürfen, als normal üblich wäre. Dadurch sorgt sie für Abwechslungen, für Entwicklungen und letztlich für gedankliche und emotionale Fortschritte. Andererseits stellen sich die Entleiher/innen von Kunst diesem Veränderungsdruck keinesfalls vorbehaltlos – zumal diese Veränderungen in den eigenen Wohnräumen Einzug auf Zeit halten. Auch wenn sie ihnen auf den ersten Blick radikal erscheinende oder gar beängstigende Bilder ausleihen, achten sie darauf, daß bestimmte (im übrigen individuell jeweils sehr unterschiedliche) gewohnte Elemente nicht verändert sind: das Format, der Rahmen, die Farbigkeit, eine figürliche Bildsprache oder ähnliches. Die Entleiher/innen von Kunst erwarten mithin Veränderungen, aber dosiert. Immerhin werden sie in nicht unerheblichem Maße mit diesen entliehenen Bildern identifiziert, und die davon ausgehenden Änderungen sind ähnlich grundlegend wie beispielsweise neue und andere Kleidung.

Original

Es ist immer wieder behauptet worden, daß die Mehrheit der Menschen figürliche Naturszenen mit Landschaft, Tier, See und viel Blau bevorzugten. Die in New York lebenden Künstler Komar und Melamid haben in Ihrer angenehm ironischen Weise eine Pseudo-Wissenschaft daraus gemacht und aufgrund statistischer, jeweils nationaler Erhebungen sogar die Lieblingsbilder und die am wenigsten geschätzten Darstellungen gefertigt. Nun mag diese Einschätzung durchaus zutreffen – zumal sie unterstützt wird von einer geradezu industriellen Vermittlungsmaschinerie, die immer wieder solche Konventionen festklopft. Inzwischen sind längst Ex- und Impressionisten fester Bestandteil dieser Sichtweise. Die flächendeckende Verwendung von solchen Gewohnheitsbildern auf Postern, Postkarten, Schirmen, Aschenbechern schöpft nicht nur Mehrwerte ab, sondern schafft optische Normen. Als Nachbilder sind die so angefachten Mechanismen gewiß auch dann im Hinterkopf wirksam, wenn bewußt Experimentelleres ausgewählt wird. Andererseits erwarten viele Entleiher/innen angesichts der Konfektions-Reproduktionen etwas anderes: "Originale". Angesichts der massenhaften Verbreitung dieser Posterkultur ist auf breiter Basis der Verdacht kaum auszuräumen, eine Druckgrafik oder ein Multiple sei kein Original. Daß gerade Künstler/innen der massenhaften Re-Produktion sinnvollerweise eine limitierte, aber eben auch multiplizierte originale Kunst entgegensetzen wollen und können, bleibt angesichts dieser Verhältnisse offensichtlich ein ernsthaftes Problem, denn die Alternative zum Reproposter ist in den meisten Köpfen das handwerkliche Unikat geblieben.

Wert

Diese Überlegungen gelten nicht zuletzt auch für den materiellen und ideellen Wert. Das multiple Kunstwerk empfinden viele Entleiher/innen wegen der Nähe zur Massenware als vergleichsweise wertlos. Nach dem Preis eines Unikats trauen sie sich andererseits oft gar nicht erst zu fragen, weil der ja ohnehin unerschwinglich erscheint. Daß Kunst – auch bekannter Künstler/innen – gar nicht so teuer ist wie erwartet, erstaunt viele, wenn sie die Preise hören. Meistens entstehen jedoch die bleibenden Preisvorstellungen durch die in den Massenmedien verkündeten Spitzenpreise. Letztlich aufgrund des gleichen Mißverständnisses, aber diesmal als positive Wirkung, sehen viele Entleiher/innen neben dem wirtschaftlichen Wert auch noch einen zweiten, kulturellen Wert. Das macht sich bemerkbar, wenn man die in der Regel sehr gute Behandlung von Kunstwerken und die niedrige Schadensziffer beim Verleih von Kunstwerken registriert. Sie drückt auch aus, was man von Kunst erwartet: etwas wertvolles zu sein, über den materiellen Wert hinaus.

Ansprache

Daß Kunst für Menschen gemacht wird, ist eine Binsenweisheit. Entleiher/innen erwarten infolgedessen häufig, daß eine künstlerische Arbeit speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten, für sie gemacht ist. Ein Bild gegen die November-Depressionen; ein Kunstwerk zur reinigenden Abrechnung mit all dem, was die tägliche mediale Bilderflut an ungeklärtem Müll in den verstopften Gängen des Gehirns zurückläßt; ein Bild als Energiequelle; eine Arbeit zur Klärung, was Kunst überhaupt kann: so lauten häufige Erwartungen der Entleihenden. Und bevor hier ein falscher Verdacht auf allzu viel Operationalisierung von Kunst aufkommt oder gar die Rückkehr des allzu Trivialen vermutet wird: natürlich wissen die meisten Entleiher/innen genau, daß Kunst eigentlich aus anderen Zwecken entsteht als jeweils ihrem eigenen individuellen Bedürfnis und sie erwarten selbstverständlich auch eine Eigenständigkeit beim Kunstwerk. Kunstwerke als Begleiter im täglichen Leben haben jedoch auch damit klarzukommen, daß sie zu solchen "Hausaufgaben" herangezogen werden.

Eigentümlich geht es zu, wenn diese hier angedeuteten Erwartungshaltungen, Umgangsweisen und Tendenzen zu Aussagen werden. Da Entleiher/innen nicht gewohnheitsmäßig und häufig über Kunst sprechen, benutzen ihre Aussagen zum eigenen Umgang mit Kunst nahezu regelmäßig Muster, die sie aus dem Deutungssystem der Sprache übernehmen. Kunst "spricht zu ihnen", "bedeutet etwas", "sagt ihnen zu" und ähnliches mehr. Während dieser Umgang mit Kunst eine (mitunter verhängnisvoll einseitige) Schulung durch Kunstvermittler verrät, sind die Reaktionen auf die Frage "Wie war’s denn mit dem Bild" deutlich freier. Mitunter unerwartet reiche Analogien aus den eigenen Erlebniswelten oder aus der Unterhaltung mit insbesondere den Kindern brechen die sprachlich-logische Umgangsweise mit dem Gesehenen auf. Und daß Kunstwerke auch und nebenbei emotionale Bedürfnisse befriedigen können, kommt auf diese Weise auch zum Vorschein.

Erlebnis

Natürlich steht auch das Ausleihen von Bildern in einem Umfeld, in welchem "Event" und "Fun" bestimmte Erwartungen markieren. Schon der regelmäßige Gang in eine Artothek, um sich mit neuer Kunst zu versehen, siedelt zwischen einem Erledigungsgang (Einkaufen, Post, Reinigung ...) und einer kulturellen Aktivität wie dem Museumsbesuch. Wenn zusätzlich Kinder mit auswählen, kommt in noch stärkerem Maße die Familiendynamik zum Zuge (auch die Kinder sollen Geschmack zeigen und mitentscheiden) und der Bildungsaspekt.

Wesentlich gewichtiger ist jedoch unter dem Aspekt des Erlebnisses die Zeit, die Entleiher mit dem Bild verbringen. Wenn die Situation in der Artothek für Gespräche geeignet ist, erfährt man enorm viel über den Umgang mit Kunst und das spezifische Erlebnis, das sie während der vergangenen Zeit für die Entleihenden geboten hat. Dabei hört man beispielsweise, daß die vergleichsweise ruhige Form eines Tafelbilds wesentlich mehr Freiräume läßt als das vorstrukturierte (und deutlich kürzere) Erlebnis eines Ausstellungsbesuchs oder gar eines Konzerts, oder daß die Zwiesprache mit den eigenen Wohnräumen diese genauer wahrnehmen läßt. Und viele der entliehenen Bilder markieren auch die persönliche Biografie: "Ach ja, dieses Bild hatte ich einmal, als ...."

Bildung

Artotheken sind wiederholt im Zusammenhang mit schulischer und allgemeiner Bildung gebracht worden. Natürlich entspricht das folgerichtig auch der Erwartung zahlreicher Entleiher/innen. Das Museum zu Hause, in kleinen, wohl dosierten Portionen zeitlich hintereinander verabreicht: da erwarten viele zurecht, daß sich Bildung entwickelt. In der Praxis zeigen sich erhebliche Unterschiede. Das in Artotheken regelmäßig vorhandene Informationsangebot zur Kunst wird teilweise geradezu begierig angenommen, teilweise skeptisch gekontert: "Ich brauche keine Informationen oder Führungen, weil sie die eigene Sicht oft einschränken." Ganz offensichtlich sind Vermittlungsbemühungen zur Kunst oft weit über ihr Ziel hinaus geschossen und haben ihr eigentliches Ziel in Mißkredit gebracht. Andererseits sind die überzeugenden, aber oft völlig unkonventionellen Zusammenstellungen von entliehenen Arbeiten durch die leihenden Kunstliebhaber ein nicht zu unterschätzender Beleg dafür, daß "Bildung" nicht in erster Linie an den vorgeprägten Lernzielen ankert, sondern vor allem am Bild.

Dieser Text erschien in: kulturpolitik : Vierteljahresschrift für Kunst und Kultur ; Mitteilungsblatt des Bundesverbandes Bildender Künstler. – Bonn (2002) 1. – S. 18 f.