Johannes Stahl
Kunst, Verleih und was man davon erwarten kann
Jede Kunst braucht Offenheit, Zeit und Engagement. Das gilt für die bildenden Künstler selbst wie für die Betrachter von Kunst. Die Möglichkeit, sich in Artotheken, Graphotheken oder dem Kunstverleih Werke der bildenden Kunst für die eigenen vier Wände auszuleihen, wird diesen Vorgaben auf besondere Weise gerecht.
Die Idee, bildende Kunst genauso günstig anzubieten wie Literatur in der öffentlichen Bibliothek, entstand schon um die Jahrhundertwende in den Vereinigen Staaten. Impulse kamen nach dem Krieg aus England und den Niederlanden, wo diese Einrichtung im Rahmen der Kunstförderung weiterentwickelt wurde. Obwohl - nach Versuchen von kurzer Dauer in der Vorkriegszeit - schon in den fünfziger Jahren erste Kunst-Ausleihen in Deutschland eingerichtet wurden, verbreitete sich dieses Modell der Kunstvermittlung zunächst nur zögerlich und vereinzelt. Ein Gründungs-Boom folgte in den siebziger Jahren. Die Maxime "Kultur für alle" als Zielvorgabe prägte diese Phase, in der vor allem viele Menschen günstig zum Bild an der eigenen Wand kommen sollten. Gleichzeitig nahm man sich die in der Regel regionale Förderung von zeitgenössischer Kunst vor. Aktive Künstlerförderung wurde und wird geleistet durch Ankäufe, über die jährlich zusammentretende Kommissionen entscheiden. Dabei liegen deren Schwerpunkte auf der Qualität der Arbeiten -so unterschiedlich ein solcher Begriff auch immer definiert werden mag. Natürlich ist notwendig, daß sich die Arbeit auch für den - das Material ja sehr beanspruchenden -Verleih eignet. Über die Jahre entstanden mitunter prägnante Sammlungen vor allem lokalen Zuschnitts. Eine regionale Ausrichtung hat jedoch auch Nachteile: es hilft den Artotheken wenig, wenn sie ausschließlich lokale Künstler fördern, vor allem dann nicht, wenn die Kunstinteressierten einer Stadt auch auf Impulse von außen warten. Im übrigen leihen sich nicht selten auch Künstler in Artotheken Kunst aus - aus ähnlichen Gründen, wie andere Menschen auch: Interesse an dem Ergebnis von Kunst, Vorlieben, Neugier.
Mit der langjährigen Sammeltätigkeit und der Zusammenarbeit mit Bibliotheken läuft in Artotheken oft sehr viel Information zusammen. Die Kölner Artothek hat daher gemeinsam mit anderen Institutionen 1990 ein -seinerzeit dringend nötiges - Künstlerverzeichnis herausgegeben; anderenorts entstehen Informationsblätter, die im übrigen auch unter den Artotheken weitergeleitet werden.
Künstler schätzen die Artotheken in der Regel nicht nur wegen des - im übrigen auch selten großartigen - Ankaufsetats und des Sammeins von Information. Ein wesentlich wichtigerer Grund künstlerischen Wohlwollens für den Kunstverleih ist seine spezielle Vermittlungsform. Der entscheidende Vorteil ist die Unmittelbarkeit, mit der künstlerische Werke und Betrachter zusammentreffen. Die Ungezwungenheit mit der Kunst zu Hause erlebt und ausprobiert werden kann, führt zu einem intensiveren Verhältnis der Betrachter zum Kunstwerk als es beispielsweise die zeitraffende Großausstellung moderner Kunst zu leisten vermag. Die wochenlang mögliche Betrachtung und mitunter ausdauernde Auseinandersetzung mit der Kunst an der eigenen Wand bringt Betrachter ausgesprochen oft dazu, sich weitere Arbeiten derselben Künstlerin, desselben Künstlers zu leihen - und nicht selten fragen sie, wo denn noch mehr zu sehen ist und ob man Arbeiten auch erwerben kann (was von Verleih zu Verleih unterschiedlich gehandhabt wird).
Ein weiterer Grund, weshalb sich Künstlerinnen und Künstler immer wieder auch aktiv für den Kunstverleih einsetzen, ist das Engagement, mit dem dort Ausstellungen betreut werden. Die meisten Artotheken sind eingebunden in andere Institutionen, und daher sind die Ausstellungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich. In Bibliotheken beispielsweise lassen sich Ausstellungen oft nur unter erheblichen optischen Kompromissen einrichten. Häufig ist aber auch die Begegnung mit Künstlern bei Diskussionen oder regelmäßigen Veranstaltungen ein Feld von Aktivitäten, wo der Kunstverleih den intensiven Kontakt mit Kunst fördert. Unter dem Titel "Glashausabend" veranstaltet beispielsweise die Artothek im Bonner Kunstverein eine Reihe, die nicht verleihbare künstlerische Ausdrucksformen wie Performance, Lesung oder Installation mit einem Gesprächsangebot an das Publikum verbindet. Sehr ernst nimmt man auch die Vermittlung von zeitgenössischer Kunst in der Zusammenarbeit mit Universitäten, Volkshochschulen, Schulen, Kirchen oder Gewerkschaften.
Leihmuseum, Graphothek, Bilderbank, Artothek, Leihgalerie, Kunst-Leasing und Leihbilderei -so vielfältig wie die Namen des Kunstverleihs in Deutschland, so unterschiedlich sind die einzelnen Einrichtungen. Der Vergleich mit anderen Institutionen der Kunstvermittlung -wie das Museum, die Galerie und der Kunstverein und nicht zuletzt die Zusammenschlüsse von Künstlern zeigt Chancen und besondere Qualitäten des Kunstverleihs, die sich hervorragend mit den Möglichkeiten anderer Institutionen ergänzen.
Mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit für lebende Künstler sind Artotheken ein wichtiger Faktor innerhalb des kulturellen Engagements einer Stadt -sie werben für aktuelle künstlerische Positionen, die auch heute noch von nur wenigen angenommen werden; sie dokumentieren aber auch die Kunst einer Stadt oder Region. Vergleichbare grafische Sammlungen existieren sonst nur in Museen, werden dort aber selten gezeigt. In der ehemaligen DDR haben auch die zahlreichen öffentlichen Betriebe und Institutionen Kunst gesammelt - jetzt wird darüber nachgedacht, wie man diese Werke zugänglich machen kann. Der Kunstverleih ist eine vielfach erwogene Lösung, denn man nimmt sehr ernst, wie mit öffentlichem Eigentum und auch der sich darin zeigenden Geschichte umgegangen wird.
Angesichts dieser Fragen und nicht zuletzt aufgrund neuer Entwicklungen im Kunstverleih ist knapp ein Vierteljahrhundert nach seiner Wiederbegründung in Deutschland eine Diskussion seiner Perspektiven dringend geboten, und das umso dringender, als in Zeiten strapazierter Kulturhaushalte gerade an verhältnismäßig kleinen Stellen am empfindlichsten gespart wird. Für einige Artotheken ist es bereits zu spät gewesen, sich von den vorhandenen Modellen des Kunstverleihs anregen zu lassen und der vielerorts drohenden Schließung zu begegnen. Auch erfolgreiche Artotheken sind in ihrer Arbeit bedroht: in Köln denkt der Rat über die Schließung des Ausstellungsbetriebs in der Artothek nach - ein solcher Beschluß würde gerade diese zentrale Vermittlungsmöglichkeit verhindern. Eine Auktion von Artotheksarbeiten - wie das jüngst in Esslingen am Neckar geschehen ist -erweist sich meist als Raubbau am öffentlichen Besitz: die attraktivsten Blätter werden gekauft, der Rest, der ja auch als Gesamtbild wertvollen Sammlung, bleibt - um seine Glanzlichter beraubt und in seiner Gesamtheit degradiert - übrig.
Dabei kostet die Institution Artothek vergleichsweise wenig: Zwei Personen können meist den Leihbetrieb auch größerer Artotheken aufrecht erhalten; Ausstellungen sind mit minimalen Etats möglich und auch über leichte Erhöhungen der ohnehin eher symbolischen Beträge (maximal 10 Mark pro Bild für zwei Monate) wird vielerorts nachgedacht.
Die Artothek im Bonner Kunstverein veranstaltet daher unter dem Titel "Chancen des Kunstverleihs" einen Fachkongreß deutscher Artotheken. Bei der Tagung in den Räumen des Bonner Kunstvereins am Freitag, 19.November, und Samstag, 20. November, sollen Ziele, Aufgaben und öffentliche Stellung des Kunstverleihs diskutiert werden - aber auch praktische Probleme, die sich nach der deutschen Einigung für die bundesdeutschen Artotheken stellen. Vor allem der Auf-und Umbau von Artotheken in den neuen Bundesländern kommt zur Sprache; Berichte und Stellungnahmen aus Frankfurt/Oder, Cottbus, Berlin, Weimar, Wismar sind vorgesehen. Experimente im Kunstverleih werden ebenfalls an diesem Tag vorgestellt, so zum Beispiel die "Artothek mobil" (Berlin) oder die "Artothek als Künstlertreffpunkt", wie sie in Köln mit viel Erfolg praktiziert wird.
Die Veranstaltung will Wege zeigen, wie man gerade beim jetzt notwendigen Sparen die Effektivität-auch der Zusammenarbeit - erhöhen kann. "Perspektiven der Zusammenarbeit" heißt das Thema der Diskussion, mit der die Fachtagung beschlossen wird. Eine engere Zusammenarbeit der Artotheken untereinander und mit anderen Stellen hilft nicht nur dem Kunstverleih, sondern vor allem der Vermittlung von Kunst.
Dr. J. Stahl ist Leiter der Artothek im Bonner Kunstverein